
Lead Forward Warum wir eine neue Arbeitskultur brauchen


Liebe Leserin, lieber Leser,
als ich anfing, Rennrad zu fahren, wusste ich noch nicht, wie sehr man in der norddeutschen Tiefebene den Wind verfluchen kann. Er macht den Unterschied. Steht er gut, gleitet man wie schwerelos durch die Welt. Erwischt er einen von vorn oder von der Seite, zählt man jeden Kilometer. Besonders gnadenlos kann es werden, wenn die Windräder stillstehen. Das tun sie nämlich nicht nur, wenn keinerlei Brise da ist, sondern auch, wenn es stürmt. Dann bläst so viel Wind, dass sich die Anlagen aus Sicherheitsgründen automatisch abschalten und ihre Rotoren so ausrichten, dass sie dem Wind möglichst wenig Angriffsfläche bieten.
Daran musste ich denken, als ich über das Editorial zu unserer aktuellen Ausgabe des Harvard Business managers nachgedacht habe. Das Titelstück "Mehr Sein als Schein " stammt von Adam Waytz , Buchautor und Managementprofessor an der Kellogg School of Management der Northwestern University. Waytz erzählt gleich zu Anfang seines Artikels die Geschichte eines Zuwanderers, der in die USA zieht und anfangs fest davon überzeugt ist, dass es in seiner neuen Heimat offenbar zum guten Ton gehört, beim Kennenlernen neuer Menschen hervorzuheben, wie wahnsinnig beschäftigt man sei.
Der Eindruck kommt nicht von ungefähr: Tatsächlich klagen immer mehr Menschen in der Arbeitswelt über eine Verdichtung ihrer Aufgaben. Die Digitalisierung hat viele Prozesse enorm verbessert, doch ihre disruptive Kraft führt auch dazu, dass die Belastung in vielen Branchen und Berufsfeldern wächst. Was an dieser Nachricht positiv ist: Wir stehen mit diesem Gefühl also nicht allein da. Was negativ ist: Die Mehrarbeit hinterlässt tiefe Spuren, wie auch die Zahlen einer aktuellen Erhebung der Arbeitsorganisation Future Forum zeigen. Demnach fühlen sich 37 Prozent aller Deutschen durch ihren Job ausgebrannt.
Weil aber chronisch erschöpfte Arbeitnehmende nicht nur sich selbst, sondern auch den Unternehmen schaden, plädiert Waytz für eine neue Kultur der Arbeit. Er fordert mehr Puffer in Prozessen, Zeit für konzentriertes Arbeiten und vor allem Führungskräfte, die wissen und vorleben, dass eine E-Mail nach Feierabend nur in den seltensten Fällen die Störung wert ist. Am meisten beeindruckt hat mich seine Schilderung des Softwareunternehmens FullContact . Das Unternehmen aus dem US-Bundesstaat Colorado gewährt seinen Mitarbeitern zusätzlich Urlaubsgeld – allerdings nur, wenn sie in ihrer Auszeit darauf verzichten, ihre Firmen-Mails zu checken. Tun sie es doch, müssen sie das Geld zurückzahlen.

Busy is the new stupid
Warum wir eine neue Kultur der Arbeit brauchen
Mich hat diese Anekdote von Waytz nachdenklich gemacht. Bei uns im Team sind einige Teilzeitkräfte, und da wir alle sehr gern und konstruktiv zusammenarbeiten (Danke, liebes HBm-Team), kommt es schon mal vor, dass sich die eine oder der andere auch außerhalb der regulären Arbeitszeit meldet. Das kann natürlich toll und hilfreich sein. Aber ich werde darauf achten, dass es nicht die Regel und vor allem ausgeglichen wird. Denn Busyness mag zwar oft gut begründet sein, sie ist aber ein gefährliches Spiel: Ist der Druck zu groß, wird die Arbeit – wie bei den Windrädern im Sturm – eingestellt.
Wie halten Sie es in Ihrem Team? Und was tun Sie, damit Arbeitszeit nicht zulasten von Lebenszeit geht? Wir freuen uns auf Ihre Nachrichten und Posts zu "Busy is the new stupid". Aber jetzt steige ich erst mal aufs Rad, das Wetter sieht gut aus, die Windräder drehen sich gemächlich.
Viel Freude bei der Lektüre und mehr Luft zum Innehalten wünscht
Gesine Braun
Stellvertretende Chefredakteurin des Harvard Business managers