Ethik Bücher lesen? Über Bücher reden!

Warum ein Literaturzirkel für Manager keine Zeitverschwendung ist, sondern Hilfe in Moralfragen bietet, erklärt Harvard-Dozentin Sandra J. Sucher.
Von M. Ellen Peebles

Seit 20 Jahren bietet die Harvard Business School ihren Literaturkurs "The Moral Leader" an. In dieser Zeit hat Kursleiterin Sandra J. Sucher ihren Studenten einen breiten Kanon an Belletristik und Sachbüchern vorgestellt, um den Führungskräften tiefgründige und wirkmächtige Lektionen zum Thema Leadership zu bieten. Sucher ist Senior Lecturer of Business Administration und arbeitete vorher lange im Management verschiedener Unternehmen. Sie ist überzeugt, dass das gemeinsame Lesen und Diskutieren von Literatur großen Einfluss auf die Entwicklung von Führungskräften haben kann.

Es mag ja sehr erhellend sein, Literatur in der Schule zu unterrichten. Aber wie ist es zu rechtfertigen, dass Sie die Zeit von Führungskräften damit verschwenden, Bücher zu lesen und zu besprechen? Sollte so etwas nicht in der Freizeit stattfinden?

Sucher Das Leben einer Führungskraft ist voll von Entscheidungen mit ethischer oder moralischer Dimension - und meist werden Sie von ihnen völlig überrumpelt. Wenn Sie mitbekommen, dass Ihr Chef einen Kollegen unfair behandelt - sagen Sie etwas? Wenn Sie mit einer Entscheidung des Topmanagements nicht einverstanden sind - wie erklären Sie das Ihren Mitarbeitern?

Fragt man jemanden, wie er sich in solchen Situationen verhalten würde, dann ist die Antwort meist: Ich würde mich auf meinen inneren Wertekanon verlassen. Aber was bedeutet das? In Unternehmen haben Führungskräfte nur wenig Gelegenheit, ein tiefer gehendes Verständnis für ethische Probleme zu entwickeln oder sich an einer Diskussion über Moralfragen zu beteiligen. Der Sinn von "The Moral Leader" besteht deshalb nicht so sehr darin, was ich oder frühere Dozenten während des Kurses erzählen. Es geht vielmehr darum, wie die Studierenden ethische Probleme gemeinsam erörtern und über die verschiedenen Blickwinkel diskutieren, die Literatur ihnen bietet. Nützlich ist diese Art der Literatur beispielsweise für Manager, die für die Entwicklung von Führungstalenten verantwortlich sind. Sie können mit Dichtung sehr aufschlussreiche Gespräche anregen.

Die Bücher, die wir lesen, haben nichts mit Wirtschaft zu tun. Darum können die Führungskräfte im Kurs von ihren vorgefertigten Meinungen abrücken. Nach längerem Nachdenken erkennen sie vielleicht auch, inwiefern ihre eigenen Entscheidungen jenen in den Büchern ähneln.

Wir lesen zum Beispiel Kazuo Ishiguros Roman "Was vom Tage übrigblieb". Darin sinniert ein englischer Butler über sein Leben, das er einem einzigen moralischen Prinzip gewidmet hat: der unbedingten Treue zu seinem Herrn. Die Opfer, die er dafür gebracht hat, und ihre Auswirkungen auf ihn und andere zeichnen das furchterregende Bild einer extremen Auffassung von Moral - auch wenn der Protagonist das nur bedingt versteht. Es fällt schwer, den Roman nicht zumindest teilweise als abschreckendes Beispiel zu lesen - für die Grenzen der Loyalität und für die Wendepunkte im Leben, an denen wir beginnen, uns in unserer Arbeit zu verlieren.

Ein Buch kann als abschreckendes Beispiel dienen, egal ob man darüber diskutiert oder nicht. Warum sollte es mehr sein als eine Pflichtlektüre für zu Hause?

Sucher "Was vom Tage übrigblieb" ist ein wunderbarer Roman, egal wie Sie ihn lesen. Aber wenn Sie sich mit Ihrem eigenen Wertekanon auseinandersetzen wollen, dann ist es nicht empfehlenswert, das Buch allein zu lesen. Das wäre kaum anders als die einsamen Grübeleien des Butlers. Er versteht zwar am Ende ein wenig besser, warum er so gehandelt hat und welche Konsequenzen seine Entscheidungen hatten. Aber er kennt nicht die ganze Geschichte. Menschen brauchen einfach die Ansichten anderer Menschen.

Ich lasse meine Studierenden auch einen Auszug aus der Autobiogra- fie der Verlegerin Katharine Graham lesen. "Wir drucken!" beschreibt ihre mutige Entscheidung, in ihrer Zeitung "The Washington Post" über den Watergate-Skandal und die Pentagon-Papiere (Geheimdokument des US-Verteidigungsministeriums, das Lügen von Präsident Johnson über den Vietnamkrieg aufdeckte - Anm. d. Red.) zu berichten.

Außerdem lesen wir Alfred Lansings "635 Tage im Eis" über Ernest Shackletons katastrophale Antarktis-Expedition. Das moralische Dilemma betrifft dabei die Frage, warum sich Shackleton entschloss, seine gesamte Mannschaft zu retten, obwohl sein Einsatz für die Schwächsten alle anderen Männer in Gefahr brachte.

Welchen Nutzen bietet ein Literaturkreis dem einzelnen Manager und seinem Unternehmen?

Sucher Erst in der Diskussion über diese Bücher beginnen die Menschen zu verstehen, wie sehr ihr eigener Wertekanon sie einschränkt - und wie sie mit einer differenzierteren Sicht an Entscheidungen herangehen können.

Die meisten von uns glauben, dass unsere Moralvorstellungen auch für andere selbstverständlich sind. Aber wenn wir von anderen Menschen Meinungen hören, auf die wir selbst nie gekommen wären, dann stärkt das unsere Argumentationskraft in Moralfragen. Und es kann eine Gruppe fest zusammenschweißen. Unternehmen sollten sich einmal überlegen, ob sie ihr Führungskräfteentwicklungsprogramm nicht um Textdiskussionen ergänzen möchten. Vielleicht könnten sie sogar einen Literaturzirkel für Topmanager ins Leben rufen - oder einen für Teams, die moralisch problematische Entscheidungen zu treffen haben.

Wählen Sie ein paar Bücher aus, treffen Sie sich vielleicht einmal pro Monat, wechseln Sie sich in der Diskussionsleitung ab, und schauen Sie, was passiert. Sie werden überrascht sein, welch tiefe Einblicke die Teilnehmer gewinnen. n

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