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Anmerkungen eines jurisprudenten Managers

Von Hans-Werner Klein
aus Harvard Business manager 3/1982

HANS-WERNER KLEIN ist Chef Justitiar und Leiter des Aufsichtsratssekretariats der Interversa Gesellschaft für Beteiligungen mbH, Hamburg, von der aus die Aktivitäten der B.A.T.-Gruppe in Deutschland gesteuert werden. Karl Engisch hat im Vorwort zu seiner berühmten "Einführung in das juristische Denken" unter anderem folgendes formuliert: "Es ist... der fast einzigartige Vorzug der Rechtswissenschaft unter den Kulturwissenschaften, nicht neben und hinter dem Recht einherzugehen, sondern das Recht selbst und das Leben in und unter dem Recht mitgestalten zu dürfen. Seit es eine Rechtswissenschaft gibt, ist sie praktische Wissenschaft. Die Römer, denen das unsterbliche Verdienst zukommt, diese Wissenschaft begründet zu haben, wußten sehr genau, was sie an ihr hatten. Sie haben sie gerühmt als die 'divinarum atque humanarum rerum notitia', sie haben sie also für die lebendigste aller Wissenschaften gehalten, und sie sind mit ihrem Recht und ihrer Rechtswissenschaft groß und stark geworden. ... Wie alles menschliche Streben und Handeln ist auch die Jurisprudenz mit Mängeln gezeichnet und Gefahren ausgesetzt. Aber man darf vermuten, daß sie, der so viele hervorragende Menschen ihre ganze Kraft gewidmet haben, nicht von allen guten Geistern verlassen ist." In diesem Sinne kann ich als Manager und Volljurist mit langjährigen Erfahrungen aus der engen Zusammenarbeit mit Unternehmensleitungen, also mit der für echte Sachlichkeit notwendigen Voreingenommenheit, die von Kortschak so treffend dargestellte Nützlichkeit des juristischen Denkens für die Arbeit des Topmanagements nur unterstreichen. Ein paar Gedanken möchte ich hinzufügen. Nicht umsonst öffnen sich dem Volljuristen nach seiner Ausbildung die vielfältigsten Berufswege, zum Beispiel in der Gerichtsbarkeit, in der Verwaltung, innerhalb der Anwaltschaft und nicht zuletzt auch in der Wirtschaft. Das liegt nicht nur daran, daß fast alles menschliche Handeln der Rechtsordnung unterworfen ist, sondern auch daran, daß sich das analytische juristische Denken in allen diesen Berufszweigen als nützlich bewährt hat. Dennoch hat der Jurist mit größeren negativen Vorurteilen zu kämpfen als die meisten anderen Berufe. Woran liegt dies? Das allgemeine Vorurteil hat zunächst einmal ganz gewiß damit zu tun, daß der Jurist und juristische Entscheidungen aller Art, insbesondere aber die Gerichtsentscheidungen, im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen. Die meisten Gerichtsverhandlungen sind öffentlich. Die Entscheidungen der Strafgerichte spielen dabei im Bewußtsein, oder sagen wir besser im Unterbewußtsein, des Durchschnittsbürgers vermutlich eine besondere Rolle. Sie bringen Bestrafungsängste und das latent vorhandene schlechte Gewissen jedes normalen Menschen unterbewußt ins Spiel. Der Normalbürger ist eben nicht vollkommen gesetzestreu, und sei es nur im Straßenverkehr. Schlechtes Gewissen und Ängste dieser Art werden aber gewissermaßen als Selbstschutz und als vorweggenommene Rechtfertigung nach außen projiziert in der Form einer allgemeinen Abneigung gegenüber dem Berufsstand der angeblich lebensfremden "spitzfindigen Rechtsverdreher", bildlich und sinnbildlich dargestellt zum Beispiel in den köstlichen Karikaturen von Daumier. Der Vorwurf der Lebensfremdheit und der Spitzfindigkeit hat freilich zu tun mit den von Kortschak beschriebenen Grundlagen der juristischen Entscheidungsfindung, mit der Technik der Subsumtion. Zwischen dem abstrakten Tatbestand eines Rechtsatzes und dem konkreten Lebenssachverhalt, der in die Klasse der durch die Rechtsbegriffe bezeichneten Fälle subsumiert werden soll, klafft häufig eine Lücke, die nicht immer durch Auslegung und andere juristische Methoden zur Lückenfüllung geschlossen werden kann oder aus Unfähigkeit nicht geschlossen wird. Dies ist dann der juristische Betriebsunfall: das Fehlurteil oder mindestens die "lebensfremde Entscheidung". Häufig ist dies allerdings nicht nur ein Problem der richtigen Subsumtion, sondern - neuerdings immer mehr auch - eine Frage der Qualität von Gesetzen. Der juristische Betriebsunfall ist aber sicherlich die Ausnahme. Das extreme Vorurteil macht ihn dagegen zur Regel und assoziiert mit gefälliger Verkürzung juristisches Denken und Lebensfremdheit als simplen Kausalzusammenhang. Auch die mißlungene Operation des Mediziners ist im wahrsten Sinne des Wortes "lebensfremd". Der Mediziner hat jedoch den Vorteil, weitgehend im Verborgenen, außerhalb der Öffentlichkeit zu operieren. Seine Wissenschaft gilt als Heilkunst; seine Fehler gelten als "Kunstfehler". Über Juristerei will jedermann mit dem "gesunden Menschenverstand" mitreden: Hier wird das Vorurteil bestärkt durch das höhere Prestige, das die Natur- und Fachwissenschaften gegenüber den Geistes- und Denkwissenschaften im Bewußtsein vieler genießen. Soweit zum Verständnis des allgemeinen Vorurteils. Daneben gibt es das spezielle Vorurteil mancher Manager gegenüber den Juristen, das auch von Kortschak zu Beginn seines Aufsatzes angesprochen wird. Auch dieses Vorurteil ist falsch oder zumindest doch nur bedingt richtig. Der Jurist hat gelernt eine sachgemäße Entscheidung zielgerichtet auf eine gründliche und erschöpfende geistige Verarbeitung des gesamten Tatsachenmaterials zu gründen. Diese Gedankenarbeit, wie überhaupt der Prozeß des Nachdenkens, ist manchmal zeitraubend. Sie bremst die operative Dynamik des mehr extrovertierten Managers. Der Manager will manchmal gleichzeitig denken und handeln, wobei die Reihenfolge auch für ihn selbst nicht immer deutlich ist. Bei der Karikatur des Managers wird bekanntlich geistige Windstille durch operative Dynamik ersetzt. Auch dies ist natürlich ein Vorurteil, diesmal gerichtet gegen den Manager. Der Manager vergißt ,mit ändern Worten gesagt, manchmal die "weltverwandelnde Kraft des handlungsentlasteten Denkens" (C.F. von Weizsäcker). Hier ist der Punkt, an dem Manager und Jurist eine fruchtbare dem Unternehmensinteresse dienliche Symbiose eingehen können. Der Firmenjurist, der ja in Wahrheit auch Manager ist, sollte in einem möglichst frühen Stadium in einen Vorgang eingeschaltet werden. Nur die frühzeitige Beteiligung am Entscheidungsprozeß, vor allem auch die Einbeziehung bei der Festlegung von Strategien und der Unternehmensplanung gibt ihm die Möglichkeit, rechtliche Gesichtspunkte rechtzeitig und unter verständiger Berücksichtigung übergeordneter Unternehmensziele in entsprechende juristische Überlegungen einfließen zu lassen. In diesem Sinne wird der Handlungs- und Entscheidungsspielraum des Firmenjuristen nicht nur durch die verhältnismäßig starre Rechtsordnung, sondern auch durch die notwendig flexibel formulierten langfristigen Unternehmensziele und Unternehmensgrundsätze bestimmt. Umgekehrt sind in der Tat in der von Kortschak beschriebenen Weise die juristischen Denkmethoden für die Arbeit des Managers von großem Nutzen. Die Formulierung langfristiger Unternehmensstrategien und die Formulierung von Unternehmensgrundsätzen sind gewissermaßen die gesetzgeberische Arbeit des Managements. Diese Strategien und Grundsätze sind die "gesetzliche" Grundlage der Planung und der Geschäftspolitik. Unter dieses "Gesetz" des Unternehmens muß das Management seine mehr kurzfristigen Ziele und Entscheidungen subsumieren. Abgeleitet aus dieser Subsumtion sind die wiederum strukturbedingten Maßnahmen zur Zielverwirklichung zu bestimmen. Verkürzt ausgedrückt: Wesentliche Aufgabe eines Managements ist es, jeweils im richtigen Zeitpunkt Ziele, Lage und Maßnahmen systemkonform, das heißt unter Berücksichtigung aller wesentlichen Umweltfaktoren einschließlich der rechtlichen Faktoren analytisch zu bestimmen. Diese Aufgabe wird nicht nur gründlicher, sondern auch schneller bewältigt werden können, wenn der Manager die juristischen Denkmethoden beherrscht. In diesem Sinne gehört es auch zu den Aufgaben des Firmenjuristen, dem Management juristisches Grundwissen und juristische Denkmethoden zu vermitteln. Dies vereinfacht die schnelle Verständigung und schafft das nötige Vertrauensklima. Nach meinen Erfahrungen führt die hier kurz skizzierte gegenseitige Befruchtung zwischen Management und Firmenjuristen auch durchaus zu einer Steigerung der unternehmerischen Kreativität insgesamt, auch im operativen Bereich. In diesem Punkt bin ich etwas anderer Auffassung als Kortschak. Das Bewußtsein einer gewissen Begrenzung des unternehmerischen Handelns durch Umweltfaktoren, und dazu gehören auch die rechtlichen Grenzen, sollte die Phantasie und Kreativität stimulieren. Die Beurteilung einer geplanten Maßnahme kann und darf sich nicht damit begnügen, die Unzulässigkeit festzustellen, sondern die Rechtsabteilung muß bemüht sein, gemeinsam mit allen Beteiligten nach Wegen zu suchen, die zu einer rechtlich unangreifbaren und sachlich befriedigenden Lösung des Problems führen. Dieser Anspruch verlangt in der Tat nach Managern und Juristen, die geistig flexibel sind. Wer unternehmerische Verantwortung trägt und gleichzeitig Volljurist ist, vereinigt die genannte Symbiose in idealer Weise in seiner eigenen Person. Im Verhältnis der Unternehmungen zu Staat und Gesellschaft und in der Umweltentwicklung ganz allgemein deuten sich heute Veränderungen in den Wertvorstellungen an, die sich in den kommenden Jahren noch beschleunigen werden. Diese Veränderungen erhöhen die Reaktions- und Anpassungsnotwendigkeit. Unter anderem durch die breitere Anwendung der analytischen juristischen Denkmethoden könnte diesen Notwendigkeiten Rechnung getragen werden. Mehr Manager sollten Juristen sein, mehr Juristen sollten Manager sein! "An dem Gemeinspruch, der Jurist wisse alles, ist soviel in der Tat wahr, daß er mehr als der Vertreter irgendeines anderen Faches zu der Diskussion eines noch so fernliegenden Gegenstandes beizutragen vermag, weil niemand so virtuos wie er die Formen zu handhaben versteht, in denen sich das Denken auf allen Wissensgebieten gleichermaßen abspielt." (Gustav Radbruch) Quellen Engisch, K.: "Einführung in das juristische Denken", Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1956. Radbruch, G.: "Einführung in die Rechtswissenschaft", Koehler Verlag, Stuttgart 1961.

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