Kommunikation Die Realtime-Illusion

Handys, Blackberrys und Notebooks mit Internetanbindung könnten Unternehmen agiler und flexibler machen. Doch die meisten Menschen tappen in eine Reihe von Fallen und wissen nicht um den sinnvollen Einsatz der Technik.

Im vergangenen Jahr wurde ich von der Geschäftsleitung einer europäischen Großbank gebeten, ein Seminar zum Thema Innovation zu halten. Die Gründe für die schwache Innovationsfähigkeit des Unternehmens zeigten sich bereits in der ersten Stunde: Zwei Drittel der Teilnehmenden, alles hochrangige Führungskräfte, saßen mit gesenkten Köpfen vor mir und tippten permanent auf ihren Blackberrys herum. Sie versuchten, gleichzeitig im Seminar und in der virtuellen Welt zu agieren.

"Wir haben eine hochresponsive Unternehmenskultur, welche die Agilität ins Zentrum stellt", lautete die Entschuldigung der Manager für ihr unablässiges elektronisches Kommunizieren.

Eine eher schwache Begründung, die zudem darüber hinwegtäuscht, was dieses weitverbreitete Verhalten anrichtet: Wer so an portable Kommunikationsgeräte gefesselt ist, leidet unter halbierter Aufmerksamkeit, mangelnder Reaktivität, Kontrollverlust und dem Gefühl, ständig gehetzt zu sein. Die Folge: Den Betroffenen fehlt es an Ideenreichtum und Initiative. Vermeintliches Realtime-Management wird so zum Kreativitäts- und Produktivitätskiller.

Eine Illusion mit Folgen

Um keinen Irrtum aufkommen zu lassen: Die moderne Kommunikationstechnik ist grundsätzlich ein Segen. Mobiltelefone, Geräte mit E-Mail-Funktion, Notebooks mit Internetanbindung - all das birgt enorme Potenziale für die Agilität und Flexibilität im Unternehmen; wäre da nicht der Mensch mit seinem oftmals pathologischen Verhalten.

Wir leben in einer Realtime-Illusion und stehen immer mehr unter dem Druck, Dinge sofort erledigen zu müssen. Laut dem Berliner Institut für Wirtschaftsforschung arbeiten 60 Prozent aller Führungskräfte stark unter Zeitdruck. Nach empirischen Untersuchungen meiner Harvard-Kollegin Teresa Amabile ist Zeitdruck durchaus mit Kreativität vereinbar, jedoch nur, wenn man sich voll auf eine Aktivität konzentriert. Produktivität und Kreativität gehen verloren, wenn mehrere Aufgaben gleichzeitig bewältigt werden - doch gerade dazu verführen uns die Blackberrys.

Manager im Hamsterrad

Die Realtime-Illusion hat eine Reihe schwerwiegender Folgen:

Verfügbarkeitsfalle. Ein Unternehmen, bei dem ein Großteil des Managements der Realtime-Illusion verfallen ist, gleicht einem Hamsterrad, das sich immer schneller dreht. Die Mitarbeiter sind permanent verfügbar und haben zunächst den Eindruck, dass sie immer schneller arbeiten. In Wahrheit kommen sie kaum vorwärts.

Koordinationswut. Es wird deutlich mehr koordiniert als notwendig. Dies wird auch dadurch verursacht, dass Koordination durch Massen-E-Mail und Blackberry vermeintlich leicht geworden ist.

Schein-Parallelität. Die Mitarbeiter haben den Eindruck, sie seien multitaskingfähig und würden zunehmend Aufgaben gleichzeitig bearbeiten. Die moderne Hirnforschung hat uns aber gezeigt, dass unser Gehirn gar nicht zu echter Parallelverarbeitung in der Lage ist. Aufgaben werden sequenziell abgearbeitet. Dabei springt unser Gehirn in sehr kurzer Zeit zwischen den einzelnen Aufgaben hin und her, was uns den Eindruck von Parallelität vermittelt.

Qualitätseinbruch. Mit zunehmender Beantwortungsgeschwindigkeit steigt die Kommunikationsfrequenz, doch die Informationsqualität sinkt. Manche Blackberry-Korrespondenz erinnert eher an Chatforen von Teenagern als an professionellen Informationsaustausch.

Vollkasko-Mentalität. Die unzähligen Kopien an alle möglichen Beteiligten via "cc" erfolgen unter dem Deckmantel der Wissensverbreitung. Dahinter stecken jedoch häufig persönliche Gründe: Mitarbeiter möchten sich mit der Information aller involvierten Personen absichern.

Verdrängung. Der frühere amerikanische Präsident Eisenhower unterschied Dringendes und Wichtiges. Problematisch sind weder die nicht dringenden, unwichtigen Aufgaben (Papierkorb) noch die dringenden, wichtigen Aufgaben (sofort selbst erledigen). Problematisch sind wichtige, aber aufschiebbare Aufgaben. Deren Bearbeitung wird immer wieder neu geplant und von unwichtigen, aber dringenden Aktivitäten verdrängt, die dank E-Mail, diktatorischem Eintrag in den Lotus-Notes-Kalender, Instant Messaging oder Blackberry ständig Vorrang haben. So wird die Führungskraft zu ihrem eigenen besten Sachbearbeiter.

Kreativitätsloch. Ruhephasen sind eine wichtige Quelle für Kreativität. Ständige Empfangsbereitschaft zerstört die Grundlagen für kreatives Arbeiten. Verhaltensforscher haben kürzlich ein Experiment durchgeführt, bei dem drei Gruppen eine anspruchsvolle Aufgabe lösen mussten. Die erste Gruppe konnte sich voll auf die Aufgabe konzentrieren, die zweite bekam alle zwei Minuten eine Instant Message, die sie bestätigen musste. Die dritte Gruppe konnte sich ebenfalls auf die Aufgabe konzentrieren, rauchte aber nebenher Joints. Das Resultat: Die "Kiffer"-Gruppe arbeitete produktiver als die zweite, die ständig durch Messages gestört wurde.

Substitution. Direkte Arbeit im Sinne des Problemlösens wird ersetzt durch Koordination. Probleme werden via E-Mail hin- und hergeschoben statt bewältigt.

Demotivation. Auf persönlicher Ebene entsteht ein empfundener Kontrollverlust über die Arbeit, der kurzfristig demotiviert und negativen Stress erzeugt.

Suchtsymptome. Langfristig fördern Suchtsymptome Burn-outs . Die Gruppe der "Crackberrys" - Süchtige mit panischer Angst, vom Netz abgeschnitten zu sein - wird ständig größer. Inzwischen formieren sich erste Selbsthilfegruppen.

Ansätze aus der Praxis

Es ist Zeit zu handeln

Was kann man tun gegen die sich epidemisch verbreitende Realtime-Illusion und ihre Folgen? In der Unternehmenspraxis haben sich einige Praktiken herausgebildet:

Vorbildfunktion. Das Topmanagement muss die Problematik erkennen, die Thematik des effektiven Arbeitens auf die Agenda bringen und sich selbst erst einmal danach richten.

Absage an "cc". Effektive Führungskräfte lesen keine Kopie-E-Mails (cc) und machen dies bekannt.

Zeitmanagement. Für die Beantwortung von E-Mails sollten begrenzte Zeitblöcke eingeplant und streng eingehalten werden.

Blackberrys. Bei Blackberrys und iPhones darf die E-Mail-push-Funktion nur in bestimmten Zeiträumen aktiviert sein. Dies muss ein bewusster Entscheid sein. So handelt zum Beispiel auch Jim Basillie, CEO des Blackberry-Herstellers RIM.

Reaktionszeit. Die erforderliche Reaktionszeit muss identifiziert und die Kommunikationsfrequenz daran angepasst werden. Bei einem Online-Disponenten ist diese sicher höher als bei einem Marketingplaner.

E-Mail-freie Zeit. In Kalifornien wird der "Casual Friday" zunehmend durch den "E-Mail-free Friday" ersetzt. An solchen Tagen ist es verboten, E-Mails zu versenden. Stattdessen wird zum direkten, persönlichen Gespräch aufgefordert. In Unternehmen, die diese Regelung eingeführt haben, ist nicht nur die Arbeitsqualität, sondern auch die Freude an der Arbeit stark gestiegen.

Kommunikationstechnologie beschleunigt die Arbeitswelt, dies steht außer Frage. Der Mensch muss jedoch die Maschine beherrschen - nicht umgekehrt. Aber vielleicht wird die nächste Generation von Kommunikationsgeräten mit einer eingebauten Verhaltenssteuerung ausgeliefert. Zumindest beschäftigen sich die Anwenderlaboratorien einiger innovativer Telekom-Unternehmen bereits intensiv mit der Thematik.

Verwandte Artikel

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren