Ergebnisse eines empirischen Pilotprojekts 73mal Innovation
DR. ROLF BERTH arbeitet als Consultantin der Unternehmensgruppe Kienbaum.
Das Thema hat Konjunktur: Allerorten ist heute zu hören, daß wir innovativer werden müssen, um unseren Platz auf dem Weltmarkt zu behaupten, daß unsere Unternehmen sich gegen die nimmermüden Konkurrenten aus Fernost und Fernwest nur mit einem unablässigen Strom einfallsreicher Novitäten behaupten können, daß wir mehr Neuerungsfreude brauchen, um unserer Volkswirtschaft dynamische Impulse zu geben und zukunftssichere Arbeitsplätze zu schaffen. Doch keiner scheint bei den hitzigen Diskussionen genau zu wissen, worüber er redet. Alle meinen offenbar etwas anderes. Was ist das überhaupt - Innovation? Und muß eine Neuerung unbedingt "kreativ" sein? Oder gibt es auch "nichtkreative Innovationen"? Diesen Fragen sind wir in einem empirischen Pilotprojekt nachgegangen, das etwas Ordnung in den allgemeinen Begriffswirrwarr bringen sollte. Aus unseren Erkenntnissen konnten wir eine einfache Matrix der vier Haupttypen von Innovationen entwickeln (siehe Abbildung 1). Im Gegensatz zu vielen in der Literatur angebotenen Lösungen war eine saubere Einordnung aller untersuchten 73 Fälle von Innovationen möglich. Die Matrix beruht auf der Beobachtung, daß Innovation maßgeblich von zwei Komponenten geprägt wird, nämlich * von der mehr oder weniger kreativen Leistung (X-Achse) und * vom Maß der Anlehnung an Vorbilder (Y-Achse). Beide Faktoren werden auf einem Kontinuum dargestellt, das von völliger Absenz bis zu starker Ausprägung reicht. Eine Darstellung in vier Quadranten bietet sich an. Diese Konfiguration ist konsensfähig, wenn folgende drei Definitionen akzeptiert werden: 1. Wir verstehen Innovation als eine Neuerung, die das Marktfeld verändert. Der Begriff ist völlig wertfrei; er kann, muß aber nicht Kreativität beinhalten. 2. Die Innovation wird beschrieben, indem zusätzliche Information zum Grad ihrer Kreativität gegeben wird (X-Achse). Kreativität verstehen wir als die Kombination vorhandener gedanklicher Elemente. Je ungewöhnlicher die Kombination, um so kreativer ist sie. 3. Unsere Studie legt nahe, die Vorbildnähe als zweites Beschreibungsmerkmal hinzuzuziehen. Die Untersuchung zeigt, daß die Diskussion um die Frage der Vorbildnähe in der Praxis außerordentlich zentrale Bedeutung hat. Patentfragen, Lizenzen, Forschungsinvestitionen hängen oft ganz eng mit der erwünschten oder benötigten Distanz zum Vorbild zusammen. Wir sehen das Phänomen Innovation mit den beiden Dimensionen zwar nicht erschöpfend beschrieben, glauben aber doch im Einklang mit vielen Autoren, daß diese Determinanten zwei besonders wichtige Innovationsfaktoren bilden. Wesentliche Elemente der gewählten Darstellung sind die Höhe des Risikos sowie Ausmaß und Dauerhaftigkeit der erzielten Konkurrenzvorteile. Die Studie legt den Schluß nahe, daß das meist hohe Risiko der hochkreativen Innovation vom Typ D mit länger anhaltenden Konkurrenzvorteilen belohnt wird (in über 75 Prozent der Fälle). Betrachten wir die vier Innovationstypen der Abbildung l etwas näher: Wir beginnen mit der imitativen Innovation vom Typ A. Viele Jahre lang war im Hause Reemtsma, dem damals unbestrittenen Marktführer bei Zigaretten, die Devise gültig: "Wir greifen erst etwas Neues auf, wenn jemand anderes es halbwegs erfolgreich verkauft hat; und dann bringen wir es in verbesserter Form." Erst nachdem der Filter von anderen getestet war, nahm Reemtsma diese Neuerung auf und sorgte aufgrund seiner Marktmacht dafür, daß sie sich bei den Konsumenten durchsetzte. Sicher war dies keine hochkreative Innovation, sondern lediglich eine Imitation. Aber sie hatte nicht nur Erfolg, sondern bewirkte auch eine dramatische Erneuerung des Marktes. (Wir wären daher wohl schlecht beraten, hier nicht mehr von Innovation zu sprechen, wie es einige Autoren vorschlagen.) Auch die Transferinnovation B ist nicht hochkreativ, aber oftmals von ungewöhnlicher Brisanz. Der "Spiegel", sicherlich eines der ungewöhnlichsten Phänomene auf dem deutschen Pressemarkt und in seiner Art hierzulande einmalig, war eine Transferinnovation vom Vorbild "Time". Wer aber wollte behaupten, daß die Lancierung des "Spiegel" keine Innovation höchsten Grades war? Die Dampfwalzeninnovation C ist eine meist wenig effiziente Methode, Neuland zu betreten, indem ein bestimmtes Ziel mit massiven Investitionen angegangen wird. Die weltweite Krebsbekämpfung oder die Miniaturisierung von Computern sind hierfür Beispiele. Es sind oft Gewaltmärsche, denen nicht immer der große Durchbruch folgt. Es zählt die Masse des Einsatzes, weniger die Spitzfindigkeit des Geistes.
Kommen wir schließlich zur hochkreativen Innovation D, die uns besonders am Herzen liegt. Sie ist eine Reise ins Ungewisse. Ein eher vages Ziel schwebt den Innovatoren vor Augen oder lediglich der bloße Wunsch nach der besseren Lösung. Dabei wird - im Gegensatz zur Dampfwalzenstrategie - weniger der Fülle der finanziellen Mittel als der Kultur des Geistes vertraut.
Innovationen sind komplexe Syndrome
Allen vier Formen der Innovation, so glauben wir schon heute aufgrund der Untersuchung mit hoher Sicherheit sagen zu können, ist eines gemeinsam: Sie haben Syndromcharakter, das heißt, Innovationen resultieren aus mehreren Faktoren. Es geht dabei um drei Aspekte, die aufeinander abgestimmt sein müssen - Philosophie, Individualpsychologie und Gruppendynamik (siehe Abbildung 2). Die hochkreative Innovation ist die dramatischste Form der Neuerung. Sie hat in der Regel Entwicklungssprünge zur Folge und ist soziologisch interessant, weil fast alle geistigen Großtaten der industriellen Revolution und der Naturwissenschaften in diese Kategorie fallen - die Dampfmaschine, Darwins Evolutionstheorie, Newtons Gravitationsgesetz oder Einsteins Relativitätstheorie. Aber in diese Reihe hochkreativer Erneuerungen gehören ebenso prosaische Produktentwicklungen, wie etwa die Maus der Apple-Computer oder das Servicekonzept des Deutschen Levi Strauss.
Drei Kompetenzen und ihre Folgen
Abbildung 3 stellt die Kompetenzen A, B und C dar, die wir in unserer Untersuchung immer wieder vorfanden, und die (wenn sie in ausgewogener Beziehung miteinander stehen) dazu führen, daß drei Situationen geschaffen werden (l, 2 und 3), die für das Entstehen von Innovation maßgeblich sind. Die drei Faktoren sind Kundenidentifikationskompetenz, kreative Kompetenz und gruppendynamische Kompetenz. Bei der Identifikationskompetenz geht es um ständige Nähe zum Kunden, wie dies von Autoren wie Peters und Waterman seit langem dringend empfohlen wird. Unsere Identifikationskompetenz ist aber ein klein wenig mehr als nur das Sichkümmern um den Käufer. Es geht um einen Wandel im Denken, der auch noch heute von vielen Managern nur mühsam vollzogen wird. Wir müssen hier drei verschiedene Sichtweisen oder Welten unterscheiden. Um künden- und marktkonform zu denken, geht es darum, die Produktsicht (Welt 1) abzuschütteln und Marktphänomene aus der Perspektive der Kundenbedürfnisse (Welt 2) zu sehen. Das bedeutet, sich eine psychologische Sichtweise zu eigen zu machen. Die Welt 2 besteht aus Objekten, die von Menschen (in unserem Falle Kunden) psychisch besetzt sind. Nur was ein Bedürfnis befriedigt, Erwartungen weckt oder Ablehnung hervorruft, also besetzt ist, hat Bedeutung. Alles übrige schrumpft zur Quantite negligeable zusammen, es kann vergessen werden. Welt 3 ist die Sicht des konkurrenzbewußten Managers, der gelernt hat, die Perspektive der Welt 2 einzunehmen, sie aber nun um das Kriterium der Wettbewerbsrelevanz bereichert. In Welt 3 hat nur das Bestand, was sich gegenüber dem Mitbewerber profiliert. Abbildung 4 zeigt einen Koffer, wie es ihn heute in fast allen Ledergeschäften zu kaufen gibt. Es ist ein größeres Modell für mehrtägige Reisen mit Rädern und einem ausklappbaren Ziehgriff; er wird in Abbildung 4 in seinen physischen Dimensionen (Welt 1) gezeigt.
Aus dem Blickwinkel vielreisender Geschäftsleute nimmt der Koffer eine völlig andere Gestalt an, bei der seine Ausmaße von der Stärke der psychischen Besetzung bestimmt werden. In Abbildung 5, der Darstellung der psychischen Dimensionen, zeigt sich, daß drei Elemente beim Nutzer starke Emotionen auslösen und deshalb in der Abbildung in entsprechender Größe gezeigt werden. * Erstens sind da die Räder und die Ziehvorrichtung, die außerordentlich positiv (+) besetzt sind, denn bei fast jedem Gebrauch wird sich der Reisende ihrer praktischen Hilfe bewußt. * Negativ (-) besetzt sind die Schlösser. Fast jeder hat schon schlechte Erfahrungen damit gemacht; sie klemmen, oder man hat den Schlüssel verloren und kann nicht öffnen. * Ein weiteres Problem ist der Henkel. Er ist meist zu klein, reißt gelegentlich aus und liegt nicht gut in der Hand, wenn der Koffer schwer belastet ist. (Eine Bemerkung am Rande: Der Hersteller hat sich phantasievoll die Welt 2 zu eigen gemacht: Der Henkel ist heute wesentlich größer und angenehmer; die Rollen sind doppelt so groß und das Schloß kann notfalls mit einer Münze geöffnet werden). Welt 2 will zeigen, wo die Interessensschwerpunkte des Anwenders liegen. Man könnte von einer Art psychologischer Wertanalyse sprechen. Brechen wir nun auf in die Welt 3. Abbildung 6 zeigt die kompetitiven Dimensionen eines Koffers. Diesmal zeichnet er sich durch ein besonderes Material aus: Büffelleder, das zwar teuer, aber sehr strapazierfähig ist. Aus der Sicht der Benutzer hat dieses Material einen so hohen Wert, daß der Koffer sich völlig von allem abhebt, was die Konkurrenz anbietet; vorhandene Mängel verschwinden praktisch. Wir sehen in der Abbildung nur das Material positiv besetzt. Tatsache ist jedoch, daß beim ersten Modell dieses Koffers die Schlösser nichts taugten, die Scharniere klemmten, der Henkel abriß. Aber all dies wurde von den positiven Eindrücken, die das Büffelleder hinterließ, ganz und gar kompensiert. Man mag sich fragen, worin sich diese Thesen unterscheiden von dem, was Autoren wie Peters und Waterman uns seit langem predigen, nämlich Hinwendung zum Kunden. In der Tat sehen wir keinen Widerspruch zu diesen Forderungen, aber wir glauben, daß das reine Sichhinwenden zum Käufer wenig bringt. Man muß in die Psyche des Kunden förmlich hineinschlüpfen. Doch das bewirkt nur in seltenen Fällen Entscheidendes und schon gar nicht hochkreative Innovationen. Wenn diese planvoll angestrebt werden, dann müssen zu dem Hineinschlüpfen in die Psyche des Kunden die beiden anderen Innovationskompetenzen kommen, nämlich die kreative und die gruppendynamische Kompetenz.
Kognitive Dissonanz
Seitdem die Psychologen der Universität Berkeley 1944 ihre erste Studie über kreative Persönlichkeiten durchführten (Architekten-Studie), ist viel geforscht und gerätselt worden, ob es eine kreative Persönlichkeit gebe und wie diese beschaffen sei. Das Bild ist immer noch relativ unklar, obgleich sich einige Komponenten als besonders wichtig herausstellten, allen voran geistige und psychische Flexibilität. Unsere Pilotstudie hat vielleicht ein weiteres wichtiges Element für eine ausgereifte Theorie der kreativen Persönlichkeit zu Tage gefördert. Wider Erwarten haben wir einen roten Faden gefunden, der sich durch alle 73 untersuchten Fälle von Innovation hindurchzieht: eine auffallende Neigung zu kognitiver Dissonanz. Es scheint, als ob ungenutztes Potential, unfertige Lösungen oder unbefriedigende Antworten in einem hochkreativen Menschen eine Spannung hervorrufen, eine Dissonanz, die er als schmerzhaft empfindet: den maßlosen Ärger über das Unvollkommene. Johannes Gutenberg schildert uns eindringlich, wie er eine solche kognitive Dissonanz jahrelang durchlebte. In verbissener Verzweiflung trachtete er danach, der Welt die gedruckte Bibel zu Volkspreisen zu schenken. "Als ich die Lösung hatte, war mir, als ob ein jahrelang ertragener Schmerz endlich vorüber wäre", schrieb er. Einstein hat mehrmals von schmerzähnlichen Zuständen berichtet, die ihn überkamen, wenn er ein Problem nicht lösen konnte. Die Autoindustrie bringt jedes Jahr hunderterlei Verbesserungen. Wenn es dem Leser fast körperlich wehtut, daß die Kfz-Hersteller bisher immer noch nicht den toten Winkel beseitigen konnten, gehört er vermutlich zu der Gattung, von der wir hier reden.
Firmenkultur
Das dritte Element, das wir in unserer Studie als entscheidend für kreative Innovationen erkannt haben, ist Gruppendynamik. Für eine besonders hoch entwickelte Gruppendynamik hat sich der Begriff "Firmenkultur" durchgesetzt. Wir gehen vermutlich mit der Industrie nicht zu hart ins Gericht, wenn wir sagen (was im übrigen unsere Studie erneut gezeigt hat): In der Mehrzahl der Fälle gibt es gar keine Firmenkultur. Allzu oft wird sie durch ein paar nichtssagende Führungsleitlinien vorgetäuscht. Unternehmenskulturen wie die von Hewlett-Packard oder IKEA sind immer noch Brillanten in einem Meer von Talmi.
Eine Firmenkultur wirkt nur als kreative Kraft, wenn sie etwas Besonderes ist: Sie muß sich von anderen Kulturen abheben. Die Mitarbeiter müssen das Gefühl haben, daß bei ihnen die Uhren ganz anders gehen als bei den Konkurrenten. Firmenkultur ist selbst ein Stück Innovation. Abbildung 7 zeigt Merkmale, die für Firmen mit hoher Firmenkultur typisch sind. Eines der interessantesten Ergebnisse der Studie besteht darin, daß ein Innovator in Unternehmen ohne Firmenkultur oftmals mit einem kleinen Kreis von Menschen, in der Regel seine engsten Mitarbeiter, eine "Kulturzelle" bildet. In diesem Kreis gibt es besondere Spielregeln, die denen einer Firmenkultur ähneln. Die Kraft für einen solchen Alleingang kommt oft aus der Enttäuschung über die nicht vorhandene Unternehmenskultur. Mühsam schafft sich der Innovator den Freiraum, der unerläßlich ist für kreatives Wirken. Welche Bedeutung diese Freiräume haben, geht aus den nachstehenden Zahlen hervor. Die 73 untersuchten Innovationsfälle, die nachweislich im Markt erfolgreich waren, wiesen folgende Struktur auf: * Zwölf Prozent wurden von oben angeordnet; sie waren Teil der offiziellen Firmenpolitik und wurden nur widerwillig, ohne Begeisterung ausgeführt. * Weitere 26 Prozent wurden zwar ebenfalls von Vorgesetzten eingeleitet, aber schließlich gern erarbeitet, weil sich Freude an der Sache einstellte. * Bei den restlichen 62 Prozent kam der Anstoß von unten; sie wurden meist in Opposition zum Vorgesetzten entwickelt. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß in allen 73 Fällen die drei Kompetenzen annähernd gleich stark präsent waren. Zufallsinnovationen, die wir hier aus dem Spiel lassen wollen, dürfen nicht unterschätzt werden, aber das Management muß sie eben dem Zufall überlassen. Will es hingegen zielstrebig kreative Innovation, so scheint es unabdingbar, gleichzeitig alle drei Kompetenzen zu stärken. Sie bewußt zu fördern, erscheint als der beste Garant, auch morgen mit Neuem aufwarten zu können.