Lebensversicherung "Es könnte Verlierer geben"

Wem steht wieviel zu? Im Streit um die Reserven der Lebensversicherer hat der Bundesfinanzminister eine Neuregelung angekündigt
Foto: Corbismm: Herr Weinmann, Lebensversicherern ist die hälftige Beteiligung ausscheidender Kunden an den Bewertungsreserven auf Zinspapiere ein Gräuel. Finanzminister Schäuble hat eine Neuregelung angekündigt. Müssen besagte Kunden jetzt eine geringere Auszahlung fürchten?
Weinmann: Ich kann es nicht ausschließen.
mm: Die Ankündigung entflammt erneut die Diskussion, ob sich eine vorzeitige Kündigung auslaufender Verträge rechnen könnte. Kurz nach der Ankündigung spekuliert der Chef der Versicherungsaufsicht über eine Schieflage einzelner Lebensversicherer, was Kunden zusätzlich verunsichert. Fehlt es hier an Sensibilität oder steckt dahinter eine wohlbedachte Strategie?
Weinmann: Eine wohlbedachte Strategie setzt eine Absprache voraus. Die hat es vermutlich nicht gegeben. Auch geht es bei der möglichen Schieflage einzelner Lebensversicherer um die Erfüllbarkeit der Eigenkapitalunterlegung in ein paar Jahren. Die Bewertungsreserven müssen aber schnell aus der öffentlichen Diskussion verschwinden.
mm: "Wenige dürfen nicht zu Lasten vieler profitieren", sagt Schäuble mit Blick auf die umstrittene Beteiligung an den Bewertungsreserven. Er teilt damit die Position des Branchenverbands GDV und hebt die Frage der Gerechtigkeit hervor. Was halten Sie für gerecht in diesem Zusammenhang?
Weinmann: Es könnte Verlierer geben, und damit geht es mehr um die öffentliche Glaubwürdigkeit der Branche als um Gerechtigkeit. Tatsache ist, dass das Bundesverfassungsgericht und das später geänderte Versicherungsvertragsgesetz eine Beteiligung ausscheidender Kunden an den Bewertungsreserven verlangen. Das ist gesetztes Recht.
mm: Nicht zuletzt der GDV aber formuliert immer wieder, die gegenwärtige Regelung sei ungerecht, benachteilige nichtausscheidende Kunden.
Weinmann: Wenn jetzt verstärkt das Thema "Gerechtigkeit" ins Feld geführt wird, muss es auch gerecht für ausscheidende Kunden zugehen, die jahrzehntelang Beiträge gezahlt haben. Ist es gerecht, wenn ein Versicherungsnehmer bei Vertragsablauf oder mit Beginn des Rentenbezugs keinen Anteil an den Bewertungsreserven erhält, die ja auch mit seinen Beiträgen erwirtschaftet wurden? Oder ist es gerecht, wenn Unternehmen jahrelang "Mondüberschüsse" in den Standmitteilungen zeigen, sie dann zum Schluss aber radikal kürzen und nicht viel mehr als heiße Luft liefern? Ich habe da Zweifel.
"Keine dramatische Lage erkennbar"
mm: Laut Ihrer Analyse dürfte es für die zwölf größten Lebensversicherer auch künftig kein Problem darstellen, ausscheidenden Kunden die Bewertungsreserven mitzugeben. Verfängt das politische Berlin einer Lobbypolitik, die sich vor allem an den Schwächsten der Branche orientiert?
Weinmann: Ich sehe eine erhebliche Widerstandskraft der Lebensversicherer, und die von mir identifizierten starken Lebensversicherer aus den Top 12 können natürlich noch besser mit der Bewertungsreserven-Regelung umgehen. Was ich aber auch ausdrücken will, ist, dass in der Geschäftsberichterstattung der untersuchten Unternehmen keine "dramatische" Lage im Hinblick auf die Bewertungsreserven erkennbar war. Ein Verband, der als "Die Deutschen Versicherer" firmiert, muss sich auch um die Schwächsten der Branche kümmern.
mm: An stillen Lasten auf Wertpapiere, wenn also ihr Marktwert unter den verbuchten Anschaffungswert fällt, werden die Kunden bislang nicht beteiligt. Wäre das sinnvoll, wenn man schon die Beteiligung an den Reserven neu regeln will?
Weinmann: Heute ist der Saldo aus stillen Reserven und stillen Lasten bei den Lebensversicherern positiv, und die Versicherungsnehmer sind daran zu beteiligen. In der Zukunft aber könnte ein starker Zinsanstieg bei den langfristigen Zinsen, der möglicherwiese gepaart ist mit einem Aktienrückgang im Saldo zu erheblichen stillen Lasten führen. Dies wäre der erste Schritt für eine Neuregelung, dass die Versicherungsnehmer nicht nur am Erfolg sondern auch an negativen Entwicklungen partizipieren.
mm: Deckt sich der Vorschlag, den die Bundesbank Mitte November in ihrem Stabilitätsbericht unterbreitet hat und den der GDV im Kern befürwortet, mit Ihren Vorstellungen?
Weinmann: Nein, eben nicht. Ich empfehle die Lektüre des richtungsweisenden Urteils des Bundesverfassungsgerichts mit seinen einhundert Absätzen. Das Gericht hat stille Reserven und insbesondere stille Lasten eindeutig definiert. Die Richter definieren stille Lasten als stille Reserven auf der Passivseite, wenn Vermögenswerte in der Bilanz höher bewertet sind als ihrem Zeitwert entspricht. Die von der Bundesbank formulierte Neuregelung bezieht jedoch nicht nur stille Reserven und stille Lasten auf Vermögensgegenstände ein, sondern versucht nun auch Unterdeckungen bei Verbindlichkeiten aufzuspüren. Das heißt im Ergebnis: Bewertungsreserven auf Vermögenswerte werden mit "stillen Lasten" in der Deckungsrückstellung saldiert. Das hat eine ganz andere Qualität.
mm: Das klingt jetzt kompliziert. Wir wissen: Ein Lebensversicherer führt seine Verbindlichkeiten, also die Zahlungsverpflichtungen an die Kunden, in Form von Deckungsrückstellungen auf der Passivseite der Bilanz. Wie soll da jetzt ein Ausgleich stattfinden?
Weinmann: Indem man auch eine Zeitwertbetrachtung für die Deckungsrückstellung anwendet. Dies bedeutete, die Deckungsrückstellung wäre mit einem deutlich niedrigeren Zinssatz als dem durchschnittlichen Garantiezinssatz abzuzinsen. Je niedriger dabei der gewählte Zins im Verhältnis zum Garantiezins ausfällt, desto größer fällt die Verrechnungsmöglichkeit mit den Bewertungsreserven aus den Vermögensgegenständen auf der Aktivseite aus.
mm: Und die auszuschüttenden Reserven an ausscheidende Kunden tendierten dann gegen Null?
"Wir brauchen dringend mehr Verbindlichkeit für die Kunden"
Weinmann: Wenn die Politik dieser Regelung folgte, steht zu befürchten, dass dann überhaupt keine anteiligen Bewertungsreserven mehr beim Versicherungsnehmer ankommen. Selbst kapitalstarke Versicherer würden sich dann wohl um eine Beteiligung ihrer Kunden an den Reserven drücken können. Die Regeln des Versicherungsvertragsgesetzes zu den Bewertungsreserven wären damit ausgehebelt. Das hatten die Bundesverfassungsrichter nach meiner Einschätzung aber nicht im Sinn. Die Verpflichtungen waren seinerzeit gar nicht Gegenstand der Urteilsfindung. Diese Kehrtwende bei den Bewertungsreserven nach gerade mal fünf Jahren könnte auch kein Kunde mehr nachvollziehen. Das Produkt Lebensversicherung würde damit noch komplizierter und undurchsichtiger.
mm: Bewertungsreserven sind von der Überschussbeteiligung ja nicht völlig losgelöst. Wenn man die Regeln für erstere änderte, gehörten dann auch die Regeln für die Überschussbeteiligung auf den Prüfstand?
Weinmann: Ja, aber das muss man erklären. Der Kunde hat auf die jährlichen Überschussanteile, wenn sie einmal zugeteilt sind, einen Rechtsanspruch. Die auszuzahlenden Bewertungsreserven sind Teil des Schlussüberschusses und ebenfalls keine manipulierbare Größe. Der eigentliche Schlussüberschuss, der zu Vertragsbeginn oder in den Überschussmitteilungen gezeigt wird, ist aber keineswegs sicher. Ein Desaster für den Kunden ist es, wenn im Jahr des Ausscheidens oder des erstmaligen Rentenbezugs die Schlussgewinnbeteiligung gekürzt wird und gerade dann auch die Bewertungsreserven des Unternehmens aufgrund der Marktentwicklung sehr gering oder gar negativ sind. Wir brauchen hier dringend mehr Berechenbarkeit und Verbindlichkeit für die Kunden. Eine Neuregelung der Bewertungsreserven sollte deshalb auch mit einer Neuregelung der Überschussbeteiligung einhergehen.
mm: Wie könnte das gehen?
Weinmann: Ein weiterer Schritt wäre die Möglichkeit, dass auszuzahlende Bewertungsreserven vollständig mit den Schlussgewinnen verrechnet werden können - aufsichtsrechtlich abgesichert und auch eindeutig dem Versicherungsnehmer gegenüber kommuniziert. Zudem kann ich mir auch vorstellen, Schlussgewinne "einzulocken". Das hieße, dass zum Beispiel fünf Jahre vor Ablauf oder vor dem Rentenbezug eine Sicherstellung der erreichten Schlussgewinne erfolgt, die dann später mit den auszuzahlenden Bewertungsreserven verrechnet werden. Um mich nicht falsch zu verstehen: Wir müssen auch an die Unternehmen denken. Es muss aber eine konsistente und für den Verbraucher verständliche Regelung geben, die auch potenzielle Neukunden anspricht.
mm: Auch Verbraucherschützer streben eine fairere Gewinnbeteiligung an. Ihr Vorschlag zielt darauf ab, die Kunden anstatt an den Bewertungsreserven stärker an der freien Rückstellung für Beitragsrückerstattung zu beteiligen - also stärker den ungebundenen Reservetopf anzuzapfen. Was halten Sie davon?
Weinmann: Die Zitierung des Verfassungsgerichtsurteils lautet: BVerfG, 1 BvR 80/95 vom 26.7.2005, Absatz-Nr. (1 - 100). Ich will damit sagen, dass sich für mich wie bei beim Bundesbank-Vorschlag auf den ersten Blick der Zusammenhang zum Ausgangspunkt der Bewertungsreserven-Regelung nicht erschließt. Das mag aber auch an mir liegen.