
Lebensversicherung 2021 - das Jahr der Zombieversicherer


Ein Fall für die Abwicklung? Eine ganze Reihe von Lebensversicherern in Deutschland hat ernste Probleme
Foto: Uwe Zucchi / picture alliance / dpaIn der Finanz- und Versicherungswelt haben wir in dem sich zu Ende neigenden Jahr die ersten Pensionskassen in Schieflage erlebt, die Versicherer lassen bei der Betriebsschließungsversicherung Tausende Kundinnen und Kunden im Regen stehen, der Zins dümpelt weiter auf niedrigem Niveau, die Regierung hat milliardenschwere Hilfspakete auf Pump auf den Weg gebracht, wir sehen 22 Lebensversicherer als angezählt und der Branchenführer Allianz prophezeit Pleiten bei Lebensversichern. Ich sehe mit großer Sorge auf 2021.

Axel Kleinlein ist Versicherungsmathematiker und arbeitete in dieser Funktion auch für die Allianz. Von 2011 (mit kurzer Unterbrechung) bis September 2022 führte er als Vorstandsprecher den Bund der Versicherten (BdV) an, die größte deutsche Verbraucherschutzorganisation für Versicherte. Kleinlein zählt zu den Gründungsmitgliedern der Bürgerbewegung "Finanzwende" . Seit April 2019 ist er auch Präsident des europäischen Verbraucherschutzverbands "Better Finance" in Brüssel. Kleinlein arbeitet mit Beginn des Jahres 2023 wieder als selbstständiger Versicherungsmathematiker, um "endlich wieder mehr zu rechnen". Dass er darüber sein politisches Interesse an der Branche verlieren wird, halten Kenner für unwahrscheinlich.
Warum? Die Lebensversicherer haben erhebliche Probleme, ihre Solvenz in den Griff zu bekommen. Haupttreiber ist der niedrige Zins. Besserung für die Branche ist nicht in Sicht. Im Gegenteil versprechen exorbitante zusätzliche Staatsschulden, dass Finanzminister Olaf Scholz und EZB-Chefin Christine Lagarde uns für eine lange Zeit eine zinslose Welt bescheren. Dem sind die Lebensversicherer gefährlich ausgeliefert, tragen aber eine Mitschuld an der Misere: Schließlich haben sie sich durch massive Fehlkalkulation mit zu hohen Garantiezinsen selbst in diese Falle begeben. Ausbaden müssen das die Versicherten mit geringen Ablaufleistungen, unsichereren Verträgen und schlechter Altersvorsorge.
In Unternehmensanleihen lauern Gefahren
Staatsanleihen werfen in der Regel keine Zinsen mehr ab. Aber nicht nur mit Staatspapieren gibt es Probleme. Auch in Unternehmensanleihen lauern Gefahren, die indirekt durch Corona verursacht sind. Wir erinnern uns: Mit einem Insolvenz-Moratorium und üppigen steuerfinanzierten Hilfen hat die Regierung klammen Unternehmen die Möglichkeit gegeben, eine Insolvenz hinauszuzögern, quasi als "Zombie-Unternehmen". Die gefährden dann andere.
Ist zum Beispiel ein Maschinenbauer auf Zulieferbetriebe angewiesen, die ohne Staatshilfe längst insolvent wären, dann ist zwar dieser Maschinenbauer nicht automatisch selber ein Zombie, aber seine wirtschaftliche Situation ist erheblich angespannter. Dies drückt sich dann in einem schlechteren Rating aus – das wird aber erst im Nachhinein offenbar.
Hat nun ein Versicherer in Unternehmen investiert, deren Ratings letztlich deutlich schwächer sind als derzeit angenommen, dann muss der Lebensversicherer eigentlich mehr Solvenzmittel aufbringen, um dagegen gewappnet zu sein, dass dieses Investment schiefgehen könnte. So sehen das zumindest die Aufsichtsregeln vor.
Oder vereinfacht gesagt: Zombie-Unternehmen stecken andere Firmen an, schlussendlich können dann auch Lebensversicherer zu Zombies werden. Ich befürchte, dass einige Lebensversicherer gar nicht abschätzen können, wie unsicher ihre Kapitalanlagen sind und allein schon über diese Unsicherheit stolpern.
Lebensversicherer müssen 100 Milliarden Zinszusatzreserve aufbringen
Dabei müssen die Manager der Lebensversicherungen schon jetzt große Anstrengungen unternehmen, um notwendige Zusatzreserven zu bilden. In Jahr 2021 wird branchenweit eine Zinszusatzreserve von etwa 100 Milliarden Euro notwendig werden.
Das stemmen die Versicherer nur, wenn sie Gelder aus den Bewertungsreserven heben, das Tafelsilber verscherbeln. Dafür müssen die Unternehmen in großem Umfang Kapitalanlagen verkaufen, die daraus entstandenen Gewinne der Überschussbeteiligung der Kunden vorenthalten und eben in die Zinszusatzreserve stecken.
Aber wie werden die Märkte reagieren, wenn eine Branche jetzt in kürzester Zeit Milliarden an Kapitalanlagen auf den Markt wirft, um Bewertungsreserven zu heben? Das ist unklar. Klappt das aber nicht, dann ist die Solvenz der Unternehmen in Gefahr, denn die Zinszusatzreserve muss bedient werden, komme was wolle.
Die Solvenzquoten der Lebensversicherer sind nach dem europäischen Aufsichtsrecht zum Teil schon jetzt erbärmlich, wenn man heute noch zulässige Übergangsregeln außer Acht lässt. Noch schlimmer wird es, wenn man alle Gelder, die nach Gesetz den Versicherten gehören, tatsächlich den Versicherten geben würde. Dann könnten nämlich alle noch nicht ausgekehrten Überschüsse nicht mehr zur Solvenz herangezogen werden.
Wir reden hier über zig Milliarden, die in der sogenannten freien RfB liegen oder als Schlussüberschüsse eigentlich für die Kundinnen und Kunden vorgesehen sind. Die Versicherten werden diese Überschüsse aber nicht bekommen können. Denn sonst hätten die Versicherer nicht mehr genug Solvenz.
Kundenprämien von morgen finanzieren die Solvenz von heute
Aber anscheinend reicht auch das nicht aus. Große Versicherer werden zukünftig nur noch Verlust garantieren, allen voran die Allianz. Wer tausend Euro investiert, soll dann nur noch 900 oder gar nur 600 Euro später garantiert bekommen. Und das soll Altersvorsorge sein? Ich soll heute auf einen Besuch in der Pizzeria verzichten, damit ich im Alter dann gerade noch eine billige Tiefkühlpizza kaufen kann? Das hat nichts mit Altersvorsorge zu tun.
Diese neuen Produkte helfen den Versicherern aber bei der Solvenz. Für jeden Vertrag, der unterschrieben wird, können sich die Versicherer schon heute Tausende Euro als Solvenzmittel gutschreiben. Mit den Kundenprämien von morgen wird die Solvenz von heute finanziert. Das hat nichts mit betriebswirtschaftlicher Verlässlichkeit zu tun. Das sind letztlich Kalkulationstricks, um die Solvenz aufzuhübschen. Und die Allianz ist Vorreiter.
Egal wie man es sieht: Niedrige Zinsen, Kalkulationstricks, das Missbrauchen der Überschüsse als Solvenzsicherheiten, Unklarheiten über Zombie-Anleihen, das Verscherbeln von Tafelsilber – das alles sind die Anzeichen einer Branche, die allmählich selbst zum Zombie mutiert.
Eigentlich sollte die Aufsichtsbehörde Bafin so etwas vermeiden. 2020 war diese Behörde wegen Wirecard und anderen Problemen schwer in der Kritik, und das anscheinend auch zu Recht. In der Versicherungsaufsicht hat sie immerhin versucht, mit ihren Mitteln auf Probleme beim Höchstrechnungszins oder den überhöhten Provisionen hinzuweisen. Es tut sich aber fast nichts, denn dazu müsste auch das Bundesfinanzministerium mitspielen, verweigert sich aber.
Bafin bemüht - aber welches Spiel spielt Olaf Scholz?
Das Spiel des Ministeriums von Olaf Scholz ist schwer zu verstehen. Die niedrigen Zinsen, die Unklarheiten über Zombie-Unternehmen, das Ausbremsen von notwendigen Regeln zu Höchstrechnungszins und Provisionsdeckeln und gleichzeitig der Appell zur kapitalgedeckten Altersvorsorge – das passt nicht zusammen. Hier wird alles getan, um eine finanz- und wirtschaftspolitische Situation vorzugaukeln, die tatsächlich nicht stabil ist. Da würde es auch nicht ins Bild passen, dass Lebensversicherer an der Solvenz scheitern.
Deswegen fürchte ich, dass die Regierung in nicht allzu großer Ferne steuerfinanzierte Hilfspakete für Lebensversicherer auf den Weg bringt. Doch dann bekommen wir Zombieversicherer. Besser wäre es, wenn die strauchelnden Unternehmen dann geordnet in die brancheninterne Auffanggesellschaft Protektor überführt würden. Aber haben die Entscheider und Experten in der Wilhelmstraße den Mut dazu? Oder setzen Finanzministerium und Lobbyverband lieber auf Zombies?
Diese Meinungsmache ist ein Auszug der "Neujahrsansprache" von BdV-Chef Axel Kleinlein. Das Video dazu finden Sie hier.
Axel Kleinlein ist Chef des Bundes der Versicherten (BdV), Deutschlands größter Verbraucherschutzorganisation für Versicherte, und Mitglied der MeinungsMacher von manager-magazin.de. Trotzdem gibt diese Kolumne nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion des manager magazins wieder.