

Branche in der Krise Lebensversicherer trudeln über dem Abgrund


Lebensversicherung: Gelingt es, einen kapitalen Absturz noch zu verhindern?
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Axel Kleinlein ist Versicherungs-Mathematiker und arbeitete in dieser Funktion auch für die Allianz. Seit 2011 (mit kurzer Unterbrechung) führt er als Vorstandsprecher den Bund der Versicherten (BdV) an, die größte deutsche Verbraucherschutzorganisation für Versicherte. Seit April 2019 ist er auch Präsident des europäischen Verbraucherschutzverbands "Better Finance" in Brüssel.
Können Sie sich daran erinnern, wie das als Kind war, einen Papierflieger zu falten und dann fliegen zu lassen? Meistens flog er nicht in die Richtung, die man wollte. Er trudelte durch die Luft, nahm Kurven die man nicht beabsichtigte, und meist stürzte er dann unkontrolliert ab. Der erste Moment in der Luft war immer der spannendste: Wie lange hält er sich? Wird das gefaltete Papier womöglich doch in die beabsichtigte Richtung fliegen? Und gelingt es vielleicht, den Flieger ausnahmsweise elegant auf der Luft gleiten zu lassen?
Genau dort stehen die Lebensversicherer heute. Keiner kann sagen, ob es noch jemand vermag, das Geschäftsmodell fliegen zu lassen. Nur wenige haben eine leise Hoffnung, dass es gelingt, auf der bescheidenen Zinskurve zu gleiten. Alle starren gebannt auf das Trudeln der Branche. Wird es gelingen, einen kapitalen Absturz zu verhindern? Und wenn nicht, wer wird der erste sein?
Der Ursprung der gegenwärtigen Probleme liegt in der Gier und Unfähigkeit der Lebensversicherer. In den 90er Jahren wollten die Versicherer unbedingt mit den Sparprodukten der Banken und Fondsgesellschaften mithalten. Ohne Not drängten die Versicherer die Aufsichtsbehörde, den Garantiezins heraufzusetzen. Vier Prozent! Einzig nur, um gegenüber den riskanteren Produkten der Nicht-Versicherer etwas besser auszusehen. Das geschah zu einem Zeitpunkt, zu dem in Japan schon abzusehen war, was eine Niedrigzinsphase mit Versicherungsunternehmen anstellen kann.
Große Versprechen - und keine Vorsorgemaßnahmen
Doch haben die Lebensversicherer angesichts der japanischen Misere dafür gesorgt, dass das mit den vier Prozent Garantiezins auch klappt? Die Versicherer haben keine Vorsorge getroffen. Die Versicherer haben gehofft, dass das schon klappen wird mit den Kapitalanlagen. Aber es hat nicht geklappt.
Wenn ein Lebensversicherer finanzielle Probleme hat, dann gibt es eine Geldquelle, die er gerne schröpft: Die Kunden, die Versicherten, müssen herhalten. Das geht auch recht einfach. Dann werden die früher gegebenen Versprechen einfach nicht eingehalten und das so eingesparte Geld zum Stopfen der selbstverschuldeten Löcher herangezogen. So einfach ist das.
Eine faire Beteiligung an den Gewinnen und Überschüssen? Vergessen Sie's! Weil die Versicherer keine Vorkehrungen für die vier-Prozent-Garantiezins getroffen haben, gibt's jetzt eben nur wenig oder gar keine Überschussbeteiligung mehr. Egal, ob sie einen Vier-Prozenter haben oder nicht; das Risiko, dass sich der Versicherer verkalkuliert, wird eben kollektiviert.
Eigentlich ist es ein Witz: Den Bürgern wird seit Jahrzehnten eingebläut, dass sie Vorsorge betreiben solle, um die Ausgaben der Zukunft stemmen zu können. Und gerade die Lebensversicherer haben keine Vorsorge dafür getroffen, um die Garantieausgaben der Zukunft zu stemmen! Stattdessen trudeln sie umher, nur noch getrieben von der Hoffnung, irgendwann durch die Krise zu rutschen.
Oder getrieben von der Hoffnung, nicht der erste Versicherer zu sein, den es erwischt.
Eine Branche belügt sich selbst
Kaum ein Versicherer wagt es gegenüber Kunden, Politik und Öffentlichkeit klar zu sagen, wie es um ihn steht. Stattdessen wird so getan, als gäbe es business as usual. Es wird so getan, als könne man mit unnötigen, überteuerten und unkalkulierbaren neuartigen Produkten das Ruder herumreißen. Kein Versicherungsmanager glaubt aber tatsächlich noch ernsthaft, dass sich die Branche durch Dreitopfhybride oder Select-Tarife durch die Krise retten kann.
Das glauben nur noch die Politiker und die Kunden, die seltsamerweise den Versicherern und deren Werbung und Lobbyisten Vertrauen schenken.
Anstatt wenigstens jetzt mit offenen Karten zu spielen und sich die eigenen Fehler einzugestehen, machen die Versicherer also jetzt, im November 2016, gegenüber Kunden und Politik noch immer so weiter wie bisher. "Jetzt noch den Garantiezins von 1,25 Prozent sichern", wird dieser Tage geworben. "Wie stehen bereit für die Rentenreform", hört man aus der Versicherungsbranche. Kein Wort darüber, dass die Krise ernster ist als je zuvor. Kein Wort fällt darüber, dass es Versicherer gibt, die nicht wissen, wie sie in den nächsten Jahren die notwendigen Reserven füllen sollen.
Eine Branche, die über dem Abgrund trudelt und so tut, als wäre alles fein, die belügt sich selbst - und ihre Kunden und die Politik. Und die Regierung will mit der Rentenreform, dass zukünftig noch mehr Steuergelder den trudelnden Lebensversicherungen zugeschustert werden. Die Regierung sollte sich überlegen, ob es richtig ist, sich mit einer solchen Branche zu verbinden. Eine Branche, die trudelt - über dem Abgrund.
Axel Kleinlein ist Chef des Bundes der Versicherten (BdV), Deutschlands größter Verbraucherschutzorganisation für Versicherte, und Mitglied der MeinungsMacher von manager-magazin.de. Trotzdem gibt diese Kolumne nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion des manager magazins wieder.