Umstrittene "Öko-Test"-Analyse Bereichern sich Lebensversicherer auf unsere Kosten?

"Auf Kosten der Kunden": Lebensversicherer vermindern ihren Gewinn, den sie mit den Kunden teilen müssen - behauptet "Öko-Test". Der Test ist jedoch umstritten
Foto: CorbisHamburg - Folgt man dem Finanzwissenschaftler und Versicherungsexperten Hermann Weinmann, müsste eigentlich ein Aufschrei durch die Lebensversicherer gehen. Der Interessenverband der Versicherungswirtschaft (GDV) müsste die jüngste Studie von Öko-Test frontal angreifen. Auch das Bundesfinanzministerium und die Versicherungsaufsicht müssten eingreifen.
Doch nichts dergleichen zeichnet sich ab - Ruhe an der Front der Lebensversicherer, die derzeit über den GDV politisch intensiv auf eine Neuregelung der umstrittenen Beteiligung von Bewertungsreserven an ausscheidende Kunden hinarbeiten.
Dabei hat das Verbrauchermagazin, das schon lange Vorsorgeträge unter die Lupe nimmt, in seiner Februar-Ausgabe die Lebensversicherer erneut hart attackiert. Lesern rät Öko-Test, keine neue Kapitallebens- oder Rentenversicherung mehr abzuschließen oder laufende Policen gegebenenfalls beitragsfrei zu stellen. Die Lebensversicherungskunden könnten "sich nicht darauf verlassen, angemessene Verzinsung zu erhalten, geschweige denn eine faire Beteiligung an erwirtschafteten Erträgen".
Im Kern lautet der Vorwurf: Obwohl die Branche noch gute Gewinne einfährt, stellen viele Lebensversicherer ihre wirtschaftliche Lage trickreich schlechter dar, als sie tatsächlich ist, um auf Kosten der Kunden durch eine geringere Gewinnausschüttung ihre Bilanzen zu sanieren. Dreh- und Angelpunkt dieser Strategie seien die Bewertungsreserven und die Zinszusatzreserve. Letztere müssen die Anbieter seit 2011 bilden, um die den Kunden garantierten Zinserträge noch über viele Jahre zu sichern.
mm: Herr Weinmann, Sie selbst analysierten, Lebensversicherer können es sich sehr gut leisten, ihre Kunden an den Bewertungsreserven auf festverzinsliche Papiere zu beteiligen. Wenn Öko-Test jetzt zudem feststellt, die Kunden bekämen diese Zusatzausschüttung wie vom Verfassungsgericht gefordert oft nicht, weil die Anbieter dafür die laufende Überschussbeteiligung oder den Schlussgewinn schröpfen - was regt Sie an dieser Feststellung auf?
Weinmann: In diesem Punkt gar nichts, sie bestärkt mich eher in der Auffassung, dass die Gewinnbeteiligung der Kunden viel transparenter werden muss und insgesamt auf den Prüfstand gehört. Da blickt kein Kunde durch. Er bleibt insbesondere dann ratlos zurück, wenn die jahrelang in den Standmitteilungen gezeigte und versprochene Schlussgewinnbeteiligung zum Vertragsende plötzlich viel kleiner oder ganz ausfällt.
"Begriffe wie Trick und Chuzpe durchaus angebracht"
mm: Diese Verschiebepraxis lässt sich nicht erkennen?
Weinmann: In den Bilanzen jedenfalls nicht, und auch aus dem einzelnen Vertrag ist das kaum herauszulesen. Die Praxis der Schlussgewinnbeteiligung ist einfach ärgerlich. Sie macht es unmöglich zu erkennen, inwieweit Schlussgewinne auf die reguläre Schlussgewinnbeteiligung und/oder anteilige Bewertungsreserven zurückzuführen sind. Hier sind die Begriffe "Trick" und "Chuzpe" für eine Reihe von Gesellschaften durchaus angebracht.
mm: Sie meinen die von Öko-Test angeprangerten Gesellschaften Allianz und Debeka - oder wen haben Sie da noch im Blick?
Weinmann: Das ist vornehmlich ein Branchenproblem. Deshalb stehen Allianz und Debeka nur als prominente Beispiele.
mm: Wenn der GDV behauptet, die Anbieter müssten vorzeitig hochverzinste Wertpapiere verkaufen, um die Bewertungsreserven zu finanzieren, ist das dann nur ein großer Bluff?
Weinmann: Wir können extern nicht zwischen "Zwang" und "Opportunität" unterscheiden. Es mag Unternehmen geben, die verkaufen müssen, aber auf Rendite bedachte Kapitalanleger realisieren auch stille Reserven, wenn sie der Meinung sind, dass Höchststände nicht von Dauer sind. Ein Dax-Stand von 10.000 Punkten und der Kurs einer Anleihe von 140 Euro, die für 100 Euro gekauft wurde, laden förmlich zur Realisation ein. Deshalb bin ich für ein marktwirtschaftliches Verfahren: Wer Probleme mit der gesetzlichen Bewertungsreserven-Regelung hat, kann eine Ausnahmegenehmigung von der Aufsichtsbehörde erhalten.
mm: Die Branche klagt lautstark nicht nur über die Bewertungsreserven, sondern auch die Zinszusatzreserve, die sie seit 2011 bilden muss, um garantierte Zinserträge langfristig zu sichern. Tricksen die Unternehmen auch hier, wie es Öko-Test unterstellt?
Weinmann: Man kann die Branche in vielen Punkten zu Recht kritisieren. Aber die von Öko-Test erhobenen Vorwürfe im Kontext mit der Zinszusatzreserve sind aus meiner Sicht völlig haltlos. Mit bestimmten Formulierungen betreibt das Magazin Fehlinformation und verunsichert die Verbraucher. Gegen solche Behauptungen sollten sich das Bundesfinanzministerium und die Versicherungsaufsicht als Verantwortliche für die gesetzlichen Regelungen zur Wehr setzen.
"Zinszusatzreserve ist kein Steuergeschenk für die Unternehmen"
mm: Welche Behauptungen meinen Sie?
Weinmann: Öko-Test behauptet, durch die Art der Bilanzierung der Zinszusatzreserve stellten die Unternehmen ihre wirtschaftliche Lage schlechter dar als sie ist und die Zeche für diese Zukunftsvorsorge zahlten die Kunden. Das ist schlicht falsch.
mm: Das sollten Sie begründen.
Weinmann: Wenn ein Anbieter die Zinszusatzreserve bildet, mindert das den Gewinn, den wir in der Lebensversicherung mit Brutto- oder Rohüberschuss kennzeichnen. Die Zinszusatzreserve kommt vollkommen den Versicherungsnehmern zugute. Sie stärkt durch die Reservierung entsprechender Vermögenswerte im Sicherungsvermögen auf der Aktivseite der Bilanz die Erfüllbarkeit der garantierten Leistungen. Ein Zahlungsmittelabfluss ist damit eben nicht verbunden. Buchhalterisch und betriebswirtschaftlich ist diese Aufwandsverrechnung das einzige sinnvolle Verfahren.
mm: Bereichern sich die Unternehmen durch die Art der Bilanzierung der Zusatzreserve nun auf Kosten der Kunden, wie Öko-Test unterstellt?
Weinmann: Ich studiere fortwährend Bilanzen von Versicherern und kann das in diesem Punkt definitiv nicht erkennen. Gleichwohl habe ich mich damit an eine der führenden Wirtschaftsprüfungsgesellschaften in Deutschland gewandt. Deren Bilanzexperte sieht die Vorgehensweise der Versicherer als völlig regelkonform und hält den Bereicherungsvorwurf ebenfalls für falsch.
mm: Wir sollten festhalten, Öko-Test kritisiert nicht regelwidriges Vorgehen, sondern "legale Buchungstricks". Ist damit aber ein "prima Steuersparmodell" für die Unternehmen verbunden, wie das Magazin behauptet?
Weinmann: Nein, auch hier liegt Öko-Test falsch. Die Zinszusatzreserve ist kein Steuergeschenk für die Unternehmen. Ohne Zinszusatzreserve wäre der Rohüberschuss entsprechend höher. Es wird aber nicht der Rohüberschuss besteuert, sondern nur der Teil, den das Unternehmen als Jahresüberschuss für sich einbehält.
"Der GDV kneift"
mm: Das Magazin behauptet, die Unternehmen ließen ihre Versicherten an dem buchhalterisch abgesenkten Gewinn auch immer weniger teilhaben. Zuletzt erhielten die Kunden sogar nur noch 58 Prozent des Gesamtgewinns. Der Rest verbliebe beim Unternehmen, fließe an die Aktionäre oder diene zur Sanierung der Bilanzen. Können Sie das nachvollziehen?
Weinmann: Nein. Öko-Test verwendet hier die Kennzahl "Gesamtrohgewinn inklusive Zinszusatzreserve". Damit führt das Magazin die Leser aber in die Irre. Die Zinszusatzreserve mindert wie gesagt den Rohüberschuss und kommt den Versicherungsnehmern zugute. Deshalb kann man sie nicht noch einmal berücksichtigen. Für mich stellt diese Herangehensweise einen schweren handwerklichen Fehler dar.
mm: Die Sache ist ja nicht ganz einfach. Glauben Sie, der GDV, reagiert deshalb nicht auf diesen Frontalangriff auf die Branche? Auf Anfrage von manager magazin online schweigt der Lobbyverband jedenfalls zur Öko-Test-Studie.
Weinmann: Das System der Gewinnbeteiligung in der Lebensversicherung ist kompliziert und intransparent. Deshalb gehört es auch komplett auf den Prüfstand. Doch wenn der GDV auf die Untersuchung nicht reagiert, überlässt er damit die Meinungsführerschaft den Kritikern aus der Verbraucherschutzlobby. Dabei hat der GDV nicht nur einen Informationsauftrag, sondern aus meiner Sicht auch eine "Wehrpflicht". Aber er kneift und kuscht.
mm: Weil er gerade erfolgreich hinter den Kulissen in Berlin eine Neuregelung der Bewertungsreserven auf den Weg bringt?
Weinmann: Das schließe ich nicht aus. Vielleicht scheut der GDV deshalb die öffentliche Auseinandersetzung über den Öko-Test-Frontalangriff, um eine Neuregelung im Sinne der Branche nicht zu gefährden. Doch diese Haltung ist fatal. Millionen Versicherungsnehmer empfangen über die Medien in den meisten Fällen nur Negatives und zum Teil Halbwahres. Sie sind erschrocken und hochgradig verunsichert. Dies bleibt nicht ohne Folgen. Die Lebensversicherung als elementare Daseinsvorsorge hat das nicht verdient. Ich bin entsetzt.