Versicherungsmathematiker Aktuare raten von langen Garantien ab

Weniger Garantie, mehr Risiko: Von herkömmlichen, lebenlangen Garantien wendet sich die Branche zusehends ab.
Foto: CorbisBerlin - Lebensversicherer sollten nach Einschätzung der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV) ihren Kunden keine lebenslangen Zinsgarantien mehr anbieten. "Wir Aktuare sollten darauf drängen, dass die Unternehmen keine Garantien mehr für ungebrenzte Zeit geben", sagte Johannes Lörper in Berlin. Angesichts der anhaltenden Niedrigzinsen müssten Lebensversicherer darüber nachdenken, neue Garantiemodelle zu entwickeln, erklärte der Chef der berufsständischen Vereinigung der Versicherungs- und Finanzmathematiker am Donnerstag zur DAV-Jahrestagung.
Das könnten zeitlich begrenzte, endfällige oder auch konkret an den Kapitalmarktzins gekoppelte Garantien sein, sagte der scheidende DAV-Vorsitzende, der zugleich Vorstand der Ergo Lebensversicherung ist. Die Ergo und die Allianz wollen im Sommer als erste Anbieter mit entsprechend neuen Produkten auf den Markt kommen.
Die Allianz Leben testet gerade in einer Umfrage unter ihren Kunden die Akzeptanz neuer Garantiemodelle, wie Vorstandschef Markus Faulhaber im Gespräch mit manager magazin online erklärte. Die Absatzstatistik der Branche zeigt allerdings, dass Kunden risikoreicheren Produkten längst den Rücken zugekehrt haben und die klassische, lebenslange Garantie klar bevorzugen.
Die Lebensversicherer garantieren ihren Kunden im Schnitt 3,15 Prozent auf den Sparanteil der Prämie. Die laufende Verzinsung eingedenk Überschussbeteiligung liegt aktuell bei 3,6 Prozent. Die Kapitalanlagen der Lebensversicherer rentierten 2012 nach Angaben des Lobbyverbands GDV mit 4,5 Prozent. Viel Luft also, möchte man meinen.
Nach Einschätzung der Aktuare dürften aber bis zu 0,7 Prozentpunkte der Rendite darauf zurückgehen, dass die Versicherer Bewertungsreserven auf Wertpapiere durch deren Veräußerung realisiert haben, deren Erträge dann in Zukunft fehlen werden. Demnach hätten die Anbieter mit ihren Kapitalanlagen im Schnitt nur 3,8 Prozent Zinsen erwirtschaftet. Das heißt: Eine ganze Reihe Lebensversicherer liegt unter besagten 3,8 Prozent. Insbesondere schwächere Anbieter könnten bei anhaltenden Niedrigzinsen auf längere Sicht Probleme bekommen, den Garantiezins noch zu erwirtschaften, betont die DAV.
Schwächere Anbieter könnten langfristig Probleme bekommen
Die Experten von Standard & Poor's hatten im vergangenen November die Situation für 22 von ihnen bewertete Lebensversicherer noch als entspannt beurteilt. Selbst bei einem Wiederanlagezins von nur 1,5 Prozent bestünde für keinen der Anbieter die Gefahr, dass er in den kommenden fünf Jahren seine Garantieverpflichtungen nicht erfüllen könne, zeigten sich die Experten nach Stresstests überzeugt.
Der Garantiezins für neue Lebensversicherungsverträge beträgt 1,75 Prozent. Die Belastung der Versicherer resultiert aber vor allem aus Altverträgen, die ihren Kunden noch 4 Prozent auf den Sparanteil garantieren. Für diese Verträge müssen die Unternehmen seit 2011 eine Zinszusatzreserve als weiteren Puffer bilden. 2012 waren es fünf Milliarden Euro, für das laufende Jahr rechnen Experten mit einer ähnlich hohen Summe.
Lörper ist davon überzeugt, dass viele Anbieter die verpflichtende Zusatzreserve durch den Verkauf noch nicht fälliger Zinspapiere finanziert haben - also Bewertungsreserven aufgelöst haben. Letztere entstehen, wenn der Marktwert von Kapitalanlagen höher ist als ihr ehemaliger Kaufpreis. Sie stellen damit keine realen Gewinne sondern Buchgewinne dar. Wegen der langen Niedrigzinsphase haben jetzt alle Versicherer hohe Bewertungsreserven auf Zinspapiere in ihren Büchern stehen.
Die Unternehmen müssen ausscheidende Kunden nach höchstrichterlicher Rechtssprechung zur Hälfte daran beteiligen. Von der Versicherungswirtschaft verfolgte Kürzungspläne ließen sich politisch nicht durchsetzen, auch weil Verbraucherschützer sie öffentlich scharf kritisiert hatten. In diesem Jahr regulär auslaufende Verträge hätten bis zu 8000 Euro Verlust hinnehmen müssen, rechneten sie vor.
Bewertungsreserven - der Streit um "Gerechtigkeit"
Lörper bezeichnete die fortgesetzte Beteiligung ausscheidender Kunden an Bewertungsreserven als "völlig unsinnig". Unter Aktuaren und Assekuranz-Vorständen traf er in Berlin damit auf breite Zustimmung. Felix Hufeld, seit Januar neuer Chef der Versicherungsaufsicht bei der Bafin, erklärte, die Gesetzeslage wirke auf Dauer destabilisierend auf die Unternehmen. Das Thema gehöre nach der Bundestagswahl wieder auf die Agenda, forderte der Aufseher.
Die Beteiligungsregel benachteilige die große Mehrzahl der Bestandskunden, kritisierten die Aktuare. Sie haben laut Gesetz die Gleichbehandlung der Versicherten zu gewährleisten. "Ziel ist es, den kollektiven Versicherungsgedanken aufrecht zu erhalten und für Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen", sagte Lörper. Darüber müsse sich ein Lebensversicherter im Klaren sein. Lebensversicherer legten das Geld der Kunden auch nicht vertragsindividuell an, sondern für das Versichertenkollektiv.
93 bis 95 Prozent der Kunden, die ihre Verträge fortführen, finanzierten den auszuschüttenden Teil der Bewertungsreserven dadurch, dass lukrative ältere Papiere verkauft werden müssten. Dies sei ungerecht, da heute ausscheidende Kunden nicht im selben Umfang zum Entstehen der Bewertungsreserven beigetragen hätten, sondern primär vom Niedrigzins für festverzinsliche Papiere profitierten.
Den verbleibenden Kunden fehle damit nicht nur ein Teil der Reserven, ihnen gingen auch Zinsen verloren. Denn der nicht ausgeschüttete Teil der Bewertungsreserven müsse jetzt zu niedrigeren Zinsen angelegt werden. Bei anhaltenden Niedrigzinsen koste das die verbleibenden Kunden etwa 0,5 Prozent Rendite, sagte Lörper bereits unlängst im Gespräch mit manager magazin online.
Unternehmen an beklagter "Ungerechtigkeit" nicht schuldlos
Mit der "Gerechtigkeit" im Versichertenkollektiv ist das allerdings so eine Sache. Die Bewertungsreserven sind in erster Linie auf ältere, höher verzinste Papiere entstanden, die die Unternehmen zu besseren Kapitalmarktzeiten einkauften, um damit langfristig die zu jener Zeit gemachten höheren Garantien erfüllen zu können. Dass Kunden, deren Vertrag jetzt nach Jahrzehnten regulär ausläuft, sich diese Reserven in gewisser Weise zurechnen, ist ebenso verständlich wie der Umstand, dass sie auf tausende Euro Ablaufleistung nicht verzichten wollen.
Die "Ungerechtigkeit" - wenn man sie schon öffentlichkeitswirksam ins Feld führt - ist auch dadurch entstanden, dass Lebensversicherer im Wettstreit mit den Banken über Jahre bankähnliches Geschäft betrieben haben. Dabei lockten sie vermögende Kunden, die einmalig sechsstellige Beträge in kürzer laufende Produkte mit vergleichsweise höheren Zinssätzen einzahlten. Oft banden diese Produkte biometrische Risiken kaum oder gar nicht ein - quasi ein steuerlich attraktives Sparkonto im Versicherungsmantel.
Wenn diese Kunden jetzt die hohe Ablaufleistung wählen und nicht die Verrentung des Kapitals und zudem noch hohe Bewertungsreserven auf ältere Wertpapiere "einstreichen", ist die damit verbundene "Ungerechtigkeit" auch auf die Unternehmen selbst zurückzuführen.
Davon unbelassen bleibt, dass die verpflichtende Ausschüttung von Bewertungsreserven auf festverzinsliche Papiere, die rund 90 Prozent der Kapitalanlage darstellen, einzelne Anbieter in einem dauerhaft niedrigen Zinsumfeld belasten kann. Es leuchtet auch nicht wirklich ein, dass Lebensversicherer einerseits Zinszusatzreserven bilden und andererseits zugleich Bewertungsreserven auflösen müssen.
Politik und Gesetzgeber werden hier eine Lösung finden müssen. Das Problem aussitzen, werden sie kaum können, dafür dürfte die Versicherungswirtschaft schon sorgen. Ob am Ende eine "gerechte" Lösung zustande kommt, bleibt dahingestellt.