Reflation, Inflation, Stagflation? Was Anleger jetzt tun sollten

Börsianer in Frankfurt: Steigende Inflationsraten können Anleger derzeit nervös machen
Foto: Frank Rumpenhorst / dpaBesser könnte die Welt an der Börse eigentlich kaum sein: Schon im Vorfeld der aktuellen Quartalsberichterstattung trieben Investoren die Aktienkurse mit hohen Erwartungen an. Mit ihren Geschäftszahlen übertrafen die Unternehmen diese Erwartungen dann mehrheitlich noch und sorgten am Aktienmarkt für zusätzliche Gewinne.
Bestes Beispiel ist der Autobauer Daimler, der seine Aktie vor wenigen Tagen dank eines Gewinnplus auf Sechsjahreshoch beförderte. Zu nennen sind an der Wall Street zudem die Tech-Riesen Microsoft sowie die Google-Mutter Alphabet oder die großen US-Banken wie Goldman Sachs und JP Morgan.
Die Folge: Der deutsche Leitindex Dax , der europäische Eurostoxx50 , die wichtigen US-Indizes Dow Jones , S&P 500 und Nasdaq 100 – sie alle notieren auf Rekordniveau oder in der Nähe davon. Eine perfekte Welt für Börsianer also, jedenfalls dem Anschein nach.
Wären da nicht einige Entwicklungen in der Weltwirtschaft, die Sorgen bereiten: Die globale Logistik befindet sich seit Monaten in einem Stau, der sich noch lange hinziehen dürfte. Die Energiepreise sind im Zuge des Comebacks der Wirtschaft aus dem Corona-Loch in die Höhe geschossen. Und in der Folge ist eingetreten, wovor Ökonomen schon seit Jahren warnen: Die Inflationsraten sind gestiegen.
Das bedeutet Gefahr für die Börse: Die zunehmende Teuerung könnte Notenbanken dazu bewegen, dauerhaft von ihrer allzu lockeren Geldpolitik abzurücken. Genau die lieferte in den vergangenen Jahren allerdings den Treibstoff für den anhaltenden Aufschwung an den Aktienmärkten.
Diese Gefahr scheint allerdings noch längst nicht allen Anlegern bewusst zu sein. "Der Aktienmarkt und seine fiebrigen Teilnehmer sind aktuell gefangen in einer nahezu perfekten Vorstellungswelt von nur temporären Störungen des Langfristszenarios aus niedriger Inflation, niedrigen Zinsen und konstruktiven Wachstums in der Welt", sagt Thomas Böckelmann, Portfoliomanager bei Vermögensmanagement Euroswitch. "Strukturelle Risiken aus sich ändernden Lieferketten und steigender Inflation werden konsequent ignoriert, jüngst von der Europäischen Zentralbank sogar als Panikmache beschrieben." Es sei zwar wünschenswert, dass die Probleme wieder vorübergingen, sagt Böckelmann. Die Unsicherheit bleibe jedoch in den kommenden Monaten in jeden Fall bestehen.
Inflationsraten auf historisch hohem Niveau
Der Portfoliolenker ist nicht der einzige, der sich solche Sorgen macht. Ingrid Szeiler ist Chief Investment Officer bei der österreichischen Raiffeisen KAG, sie verfolgt die Entwicklung der Inflationszahlen ebenfalls aufmerksam. "Von der (guten) Reflation, über die (temporäre) Inflation zur (bösen) Stagflation", so könne man – etwas überspitzt – die Berichterstattung im Jahresverlauf zum Thema der Preissteigerungen nach dem Corona bedingten Wirtschaftseinbruch zusammenfassen, schreibt Szeiler in einer aktuellen Einschätzung. "Natürlich sind Schlagzeilen hinsichtlich einer Stagflation zum gegenwärtigen Zeitpunkt weit übertrieben, aber es gilt dennoch, etwaige sich verstärkende Tendenzen in diese Richtung auch in Hinblick auf den Handlungsspielraum der Notenbanken aufmerksam zu verfolgen."
Der Begriff Stagflation steht für ein Szenario, in dem eine wirtschaftliche "Stagnation", also ein ins Stocken geratenes oder sinkendes Wachstum, zeitgleich mit steigenden Preisen ("Inflation") auftritt. Diese Situation gilt als besonders fatal für eine Volkswirtschaft: Arbeitslosigkeit und Preise können zeitgleich steigen, ein Ausweg ist nur schwer zu finden. Die bekannteste Stagflation gab es in den 1970er-Jahren, als während der Ölkrise die Ölpreise stark stiegen. Aktuelle Befürchtungen einer Stagflation beruhen ebenfalls auf Preissteigerungen, die zum Großteil durch hohe Energiekosten verursacht werden, sowie der Sorge um ein zurückgehendes Wirtschaftswachstum.
Markus Sievers, geschäftsführender Gesellschafter des Investmentfondsanbieters Apano, blickt zudem mit etwas mehr Abstand auf das Geschehen. Seit mehr als zehn Jahren habe es an den Aktienmärkten keine längere Phase fallender Kurse mehr gegeben, stellt er fest. Auch der Corona-Crash im Frühjahr 2020 sei zu kurz gewesen, um bei vielen Marktteilnehmern den Sinn für das Risiko zu schärfen. Doch mit den steigenden Inflationsraten und dem beginnenden Umdenken in Notenbanken wie der Fed in den USA, der Bank of England sowie bald womöglich auch der EZB wachse die Gefahr von Rückschlägen. "Die Märkte preisen momentan ein, dass alle bestehenden Risiken gut ausgehen", sagt Sievers. So sei es dank der vielen Liquidität von Zentralbanken in den vergangenen Jahren schließlich regelmäßig gewesen. "Aber wird das jetzt tatsächlich so weitergehen?" fragt Sievers.
Tatsächlich haben die Inflationsraten inzwischen zum Teil historisches Niveau erreicht. In der Euro-Zone legten die Verbraucherpreise im Oktober gegenüber dem Vorjahresmonat um 4,1 Prozent zu, das ist der höchste Wert seit Mitte 2008. In Deutschland stiegen die Preise sogar um 4,5 Prozent, das gab es zuletzt im Oktober 1993. In den USA stieg die Inflationsrate schon im September auf 5,4 Prozent, den ebenfalls höchsten Wert seit 13 Jahren. Die Kerninflation, die auch von der Notenbank Fed beobachtet wird, beträgt in den Vereinigten Staaten 3,6 Prozent und liegt damit seit Monaten auf einem Niveau, das es seit 30 Jahren nicht mehr gab .
Notenbanken wie die Bank of England oder die US-amerikanische Fed haben vor dem Hintergrund bereits einen vorsichtigen Schwenk ihrer Geldpolitik angedeutet beziehungsweise gestartet. Die Fed beschloss auf ihrer jüngsten Sitzung eine Einschränkung der laufenden Anleihekäufe – weil danach zurückhaltende Äußerungen von Fed-Chef Jerome Powell (68) folgten, reagierten die Märkte in diesem Fall mit Kursgewinnen. Die Europäische Zentralbank bleibt bisher offiziell bei ihrem Standpunkt, die Inflation sei ein vorübergehendes Phänomen und bedürfe keiner geldpolitischen Reaktion. Es scheint jedoch fraglich, ob die Zinswächter diese Linie beibehalten können, sollte sich in nächster Zeit zeigen, dass die Preissteigerungsraten doch länger auf höherem Niveau verharren.
Was sollen Geldanlegerinnen und Geldanleger also in diesem Szenario tun? Können sie darauf vertrauen, dass EZB, Fed und Co der Hochseilakt der Inflationsbekämpfung ohne Rückschläge an den Finanzmärkten gelingt? Oder sollten sie ihr Portfolio womöglich für schlechtere Zeiten in Stellung bringen?
Anlageexperten zum Teil gelassen ...
Wer sich unter Investmentexperten umhört, stellt fest: Die Branche ist in dieser Sache keineswegs einer Meinung. "Wir gehen immer noch davon aus, dass es sich bei der aktuellen Entwicklung der Inflation um Corona-bedingte Nachholeffekte handelt", beschwichtigt beispielsweise Petra Ahrens, Vorständin des Vermögensverwalters Maiestas in Köln. Zwar sei künftig mit einer höheren Inflationsrate als in den vergangenen Jahren zu rechnen. Aber: "Bei einer Inflation von schätzungsweise 3 Prozent erwarten wir kein Intervenieren der Notenbanken."
Die Anlageberaterin weist allerdings darauf hin, dass es in einem Nullzinsumfeld und einer Inflation von 3 Prozent für Anleger zu einem Kaufkraftverlust ihrer Ersparnisse kommen könne. "Gold stellt für uns bestenfalls einen Inflationsausgleich dar", sagt Ahrens. "Die Anlage in reale Vermögenswerte wie Immobilien und Aktien ist daher ohne Alternative."
Auch Nicolas Pilz, Geschäftsführer der Societas Vermögensverwaltung in Düsseldorf, gibt sich gelassen. "Zu einem Umschichten in sogenannte sichere Anlageformen wie Anleihen raten wir definitiv nicht, da wir keine nennenswerten Zinserhöhungen in den kommenden Jahren erwarten", sagt er. "Insbesondere Unternehmen mit Preissetzungsmacht werden die besten Chancen haben im Umfeld höherer Inflation ihre Gewinne zu steigern und damit die Basis für steigende Kurse zu setzen." Grundsätzlich liege der Fokus auch in den kommenden Jahren auf Aktien, sagt Pilz, allein schon, weil bei Anleihen kaum eine positive Realverzinsung zu erzielen sei.
... und zum Teil alarmiert
Auf der anderen Seite gibt es aber auch kritischere Stimmen. Manfred Rath etwa, Vermögensverwalter bei der KSW Vermögensverwaltung in Nürnberg, hält eine etwas höhere Liquiditätsquote nach dem bisher sehr erfolgreichen und erfreulichen Börsenjahr für "keine schlechte Idee".
"Bestimmte Dinge sind meines Erachtens noch nicht an der Börse eingepreist und könnten für deutliche Kursverluste in bestimmten Assetklassen sorgen", warnt auch Frank Wieser. Der Geschäftsführer bei PMP Vermögensmanagement aus Düsseldorf weist neben dem Inflationsthema vor allem auf die Verschuldungspolitik in Europa als Risikofaktor hin. "Ob Deutschland seine restriktive Verschuldungspolitik durchhalten kann, ist sehr zu bezweifeln", sagt Wieser. "Derzeit glauben die Märkte noch an die Standhaftigkeit der FDP. Ob das aber auch dauerhaft so sein wird, ist zumindest zweifelhaft."
Der Druck der südeuropäischen Länder und Frankreichs sei groß und es könne zu einer europaweiten "neuen Fiskalpolitik" kommen, glaubt der Investmentprofi. "In einem solchen Fall ist ein Anleihecrash nicht auszuschließen", befürchtet er.
Auch Rainer Göritz vom Kölner Vermögensverwalter B&K Vermögen blickt mit Sorge auf die aktuelle Lage an den Märkten. Anlegern rät er, jetzt aktiv zu werden und ihre Portfoliostruktur "kritisch zu überprüfen".
"Eine restriktivere Geldpolitik einhergehend mit steigenden Kapitalmarktzinsen wird kurzfristig zu einer zunehmenden Volatilität in nahezu allen Anlageklassen führen", sagt Göritz. "Anleiheinvestoren müssen sich auf fallende Kurse einstellen und sollten daher lange Durationen meiden." Da der Realzins sicherer Anlagen negativ bleiben werde, führe an Aktien als mittel- und langfristigem Inflationsschutz kein Weg vorbei, wobei auf Unternehmen mit hoher Profitabilität, die über eine starke Wettbewerbssituation und erstklassige Produkte verfügen, geachtet werden sollte. "Diese Unternehmen verfügen über die entsprechende Preissetzungsmacht und können steigende Beschaffungskosten an ihre Kunden weitergeben", sagt Göritz. Zudem weist der Experte darauf hin, dass etwa Banken bei steigendem Zinsniveau profitieren können.
Das Problem mit dem Market-Timing
Ein Aspekt klingt bei vielen Experten immer wieder an: Zwar bestehen womöglich Risiken an den Aktienmärkten. Angesichts niedriger Zinsen und hoher Inflationsraten fehlen aber Investmentalternativen, die wirklich sicher sind und zugleich attraktiv erscheinen. Denn bei Banken und Sparkassen erzielen Sparer in diesem Umfeld im Zweifel einen realen Vermögensverlust.
"In diesem Szenario gibt es keine sicheren Geldanlagen", bringt es Markus Richert vom Kölner Vermögensverwalter Portfolio Concept auf den Punkt. "Dass das Geld auf dem Tages- oder Festgeldkonto sicher angelegt ist, ist eine Illusion." "Sicher" sei derzeit nur, dass sich Sparer mit dem angelegten Geld in Zukunft weniger leisten können. "Den einzigen Schutz bieten liquide Sachwerte wie robuste Qualitätsaktien", sagt er. "Demnach sollten langfristig orientierte Anleger ihre Aktienquote erhöhen."
Zudem macht Richert auf ein grundlegendes Problem aufmerksam. "Vor dem großen Crash aus dem Markt aussteigen und dann genau beim Tiefpunkt günstig wieder einsteigen, klingt verlockend", sagt er. "Leider sieht die Realität ganz anders aus." Laut Richert ist der Versuch, das richtige Timing bei der Geldanlage zu erwischen, von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Mit der Ansicht befindet sich der Vermögensverwalter in prominenter Gesellschaft. "Der dümmste Grund, eine Aktie zu kaufen, ist, weil sie steigt, und der dümmste Grund, eine Aktie zu verkaufen, ist, weil sie fällt", sagte schon Investment-Großmeister Warren Buffett. Und Ökonom und Nobelpreisträger Robert Merton wird zitiert mit dem Ausspruch, Market-Timing sei ein "närrisches Unterfangen”.