Steuerbescheide Nichts ist für die Ewigkeit
Der Passus findet sich in unzähligen Steuerbescheiden: "Vorläufig" sei das Ganze nur, und zwar nach Paragraf 165 Absatz 1 AO (Abgabenordnung). Vielen Empfängern fällt der Satz gar nicht auf, die meisten nehmen ihn kopfschüttelnd zur Kenntnis.
Doch was steckt hinter der Standardformel der Finanzämter? So merkwürdig das ist: Die Rechtslage ist bei bestimmten Punkten nicht eindeutig und muss noch geklärt werden. Der Steuerzahler tut gut daran, dass auch wirklich alle Punkte, die rechtsunsicher sind, in seinem Bescheid als "vorläufig" anerkannt werden.
Die Vorläufigkeitsregel wird angewandt wenn nicht klar ist, ob die Voraussetzung für die Steuererhebung vorliegt oder Verfahren vor dem Bundesfinanzhof, Bundesverfassungsgericht oder Europäischen Gerichtshof anhängig sind. Über die endgültige Form wird dann entschieden, wenn die Angelegenheit geklärt ist. Dies kann sich über mehrere Jahre hinziehen.
Durch die Vorläufigkeitsregelung wird deshalb faktisch die Verjährung des Anspruchs außer Kraft gesetzt. Fällt die Entscheidung der Gerichte zu Ihren Gunsten aus oder stellt sich heraus, dass die Voraussetzungen für die Steuererhebung nicht vorlagen, erhalten Sie eine Nachzahlung. Stellt sich heraus, dass die Annahmen im Steuerbescheid korrekt waren, müssen Sie die noch nicht gezahlten Steuern nachzahlen.
Auch der Fiskus ist sich nicht immer sicher
Weil unser Steuerrecht immer komplizierter wird und immer stärker in internationales (EU-)Recht eingebunden werden muss, ist sich auch der Fiskus nicht mehr sicher, ob all das, was er in seine Bescheide schreibt, rechtens ist. Deshalb bestimmt das Bundesfinanzministerium in unregelmäßigen Abständen per Rundschreiben, welche Vorläufigkeitsvermerke von Amts wegen in die Steuerbescheide aufgenommen werden müssen.
Für Sie als Steuerzahler hat das eine Reihe von Vorteilen: Sie müssen zu den mit Vorläufigkeitsvermerk versehenen Tatbeständen keinen Einspruch einlegen. Ihre Rechte bleiben durch den Vorläufigkeitsvermerk zeitlich unbeschränkt gewahrt. Auch bei einer Entscheidung zu Ihren Gunsten wird der Steuerbescheid automatisch geändert.
Sollte der Steuerbescheid also Punkte enthalten, die mit dem Vorläufigkeitsvermerk versehen sein sollten und der Vermerk fehlt, legen Sie Einspruch ein, damit Ihnen Ihre Rechte nicht verloren gehen. Wurde die Sachlage geklärt, muss die Änderung des Steuerbescheids innerhalb eines Jahres erfolgen, nachdem das Finanzamt von der Klärung Kenntnis erhielt. Entscheidet ein Gerichtsverfahren über die Sache, muss der Steuerbescheid spätestens zwei Jahre nach Veröffentlichung des Urteils geändert werden (Paragraf 171 Absatz 1 8 AO).
Das Bundesfinanzministerium hat in einem Rundschreiben vom 20. Juni 2008 bestimmt, für welche strittigen Fragen ein Vorläufigkeitsvermerk nach Paragraf 165 AO in die Steuerbescheide aufgenommen werden soll. Im Einzelnen sind dies die folgenden Streitfragen:
Entfernungspauschale und Beratung
Von Entfernungspauschale bis Beratung
Entfernungspauschale: Die seit 2007 geltende Regelung, wonach für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte erst ab dem 21. Entfernungskilometer eine Entfernungspauschale von 0,30 Euro wie Werbungskosten absetzbar ist (Paragraf 9 Absatz 2 Einkommensteuergesetz 2007), hat gute Chancen, wieder gekippt zu werden. Ein Urteil über die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung steht noch aus. Der Vorläufigkeitsvermerk muss bei sämtlichen Einkommensteuerfestsetzungen und Bescheiden über die gesonderte (und gegebenenfalls einheitliche) Feststellung von Einkünften für Veranlagungszeiträume ab 2007 angebracht werden. Auf Ihren Antrag wird dann die Aussetzung des Vollzugs gewährt.
Steuerberatungskosten: Seit Anfang 2006 gelten private Steuerberatungskosten als Kosten der Lebensführung und sind nicht mehr steuerlich abzugsfähig. Steuerberatungskosten im Zusammenhang mit der Einkunftserzielung können jedoch weiterhin als Werbungskosten oder Betriebsausgaben bei der jeweiligen Einkunftsart abgesetzt werden. Sie müssen also faktisch Ihre Steuerberatungskosten in einen absetzbaren und einen nicht absetzbaren Teil spalten. Ob dies zu rechtfertigen ist, soll durch ein Verfahren, bei dem die Revision beim Bundesfinanzhof anhängig ist (Aktenzeichen X R 10/08), geklärt werden.
Vorsorgeaufwendungen: Vorsorgeaufwendungen, wie beispielsweise der Arbeitnehmeranteil an den Sozialversicherungsbeiträgen, konnten bis 2004 nur bis zu einem Vorsorgehöchstbetrag als Sonderausgaben berücksichtigt werden. Seit 2005 werden Altersvorsorge- und andere Vorsorgeaufwendungen getrennt voneinander bis zu eigenständigen Höchstbeträgen berücksichtigt. Der Höchstbetrag für andere Vorsorgeaufwendungen beläuft sich hier auf gerade einmal 1500 Euro, was mickrig bemessen ist. Die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung muss noch vom Bundesverfassungsgericht geklärt werden. Deshalb sollten Sie sämtliche Vorsorgeaufwendungen in der Steuererklärung geltend machen. Wird der begrenzte Abzug für verfassungswidrig erklärt, können nur die geltend gemachten Aufwendungen berücksichtigt werden. Hier sollten Sie ein besonderes Augenmerk auf den Vorläufigkeitsvermerk haben. Nur wenn der Vermerk vorhanden ist, können Sie auf einen Einspruch in dieser Angelegenheit verzichten.
Bei diesem Vorläufigkeitsvermerk geht es auch um die Einschränkungen bei der Abzugsfähigkeit von Beiträgen zu Krankenversicherungen, wobei hier die privat Krankenversicherten besonders im Fokus stehen. Hier hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der Sonderausgabenabzug für Privatversicherte mit Kindern wegen der fehlenden Familienkomponente zu niedrig und damit verfassungswidrig ist. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes wirkt sich mindestens bis 1997 aus. Sie verlangt außerdem eine Korrektur der 2005 vorgenommenen Neuregelung. Eine gesetzliche Neuregelung muss allerdings erst zum 1. Januar 2010 in Kraft treten, sodass man noch bis Ende 2009 den derzeitigen Gesetzesstand hinnehmen muss. Hier darf aber der Vorläufigkeitsvermerk in keinem Fall vergessen werden. (Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Februar 2008, 2 BvL 1/06).
Rente, Freibetrag, Werbungskosten
Von gesetzlicher Rente bis Werbungskosten
Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung: Vorrangig geht es hier um die Besteuerung der Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Gleichzeitig geht es aber auch um die Renten aus berufsständischen Versorgungswerken, die seit 2005 mit einem Besteuerungsanteil steuerpflichtig sind. Hier geht es um den Prozentsatz, der für das Jahr des Rentenbeginns gesetzlich festgelegt wird. Er begann 2005 mit 50 Prozent und steigt für jeden neuen Rentnerjahrgang um jährlich 2 Prozentpunkte, bis 2040 schließlich 100 Prozent erreicht werden.
Die hier anhängigen Verfahren dürften sich jedoch noch über einige Jahre hinziehen, obwohl bereits am 1. Februar 2006 eine Grundsatzentscheidung durch den Bundesfinanzhof gefällt wurde. Aber gerade die wachsweichen Formulierungen in dieser Entscheidung lassen vermuten, dass sich die Richter eher um eine endgültige Klärung herummogeln wollten.
Die Richter entschieden seinerzeit, dass eine unzulässige Überbesteuerung nur in der Gesamtschau mit der späteren Rentenbesteuerung erkannt werden könne. Darum werde später auch der Umfang der Rentenbesteuerung auf dem Prüfstand stehen. Im vorliegenden Fall ging es jedoch lediglich um die Beitragszahlungen. Würde später die Verfassungsmäßigkeit des Besteuerungsanteils der Renten geprüft, sei "das Grundsystem der nachgelagerten Rentenbesteuerung zu überdenken".
Entlastungsbetrag ab 2004: Dieser Vorläufigkeitsvermerk bezieht sich lediglich auf die Frage, ob der Entlastungsbetrag gemäß Paragraf 24b Einkommensteuergesetz Ehegatten in verfassungswidriger Weise benachteiligt. Er wird daher nur bei Steuerbescheiden von Ehegatten beziehungsweise in Fällen, in denen eine Günstigerprüfung zwischen Kindergeld und Kinderfreibetrag erfolgte, angebracht.
Haushaltsfreibetrag: Hier ist darauf zu achten, dass der Vorläufigkeitsvermerk bei jedem Steuerbescheid angebracht werden muss, bei dem Kinder berücksichtigt wurden. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich bei den Steuerzahlern um alleinerziehende oder verheiratete Eltern handelt. Umstritten ist hier nämlich nicht nur, ob die Kürzung des Haushaltsfreibetrags für Alleinerziehende verfassungskonform ist. Auch die Frage, ob der Haushaltsfreibetrag bei verheirateten Eltern ebenfalls zu gewähren ist, wurde noch nicht abschließend geklärt.
Pauschale Werbungskosten oder Betriebsausgaben: Abgeordnete erhalten ohne jeden Nachweis eine steuerfreie Kostenpauschale von über 42.000 Euro jährlich. Der normale Steuerzahler hingegen muss sich mit lächerlichen 920 Euro begnügen. Diese Diskrepanz dürfte in jedem Fall verfassungswidrig sein. Geklärt werden muss jetzt, ob die Abgeordnetenpauschale zu hoch oder der Arbeitnehmerpauschbetrag zu niedrig ist. Zur Klärung sind bereits mehrere Verfahren vor dem Bundesfinanzhof anhängig. Der Fiskus hat zur Vermeidung von Einsprüchen in allen Steuerbescheiden seit dem 13. April 2005 den entsprechenden Vorläufigkeitsvermerk aufgenommen.
Nur die Spitze des Eisbergs
Nur die Spitze des Eisbergs
Die zuvor genannten Streitpunkte stellen aber nur die Spitze des Eisbergs dar. Wie unklar die Rechtslage in vielen Bereichen ist, zeigen weit über 1000 Verfahren, die vor dem Bundesfinanzhof, dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof anhängig sind.
Dem Laien wird es da unmöglich und auch dem Fachmann unsagbar schwer, all diese Verfahren im Auge zu behalten und die entsprechenden Einsprüche bei den Finanzämtern einzulegen.
Beim Finanzgericht Münster ist deshalb ein Musterverfahren anhängig (Aktenzeichen: 7 K 99/06 F), in dem geklärt werden soll, ob die Vorläufigkeit für alle anhängigen Verfahren gelten soll, die in einer Beilage zum Bundessteuerblatt veröffentlicht werden. Dies wäre eine große Entlastung für die Steuerzahler.
Die Chancen, dass es zu einer allgemeinen Anerkennung der Vorläufigkeit kommt, sind jedoch eher gering einzuschätzen.
So hat das Finanzgericht Köln bereits entschieden, dass die Steuerzahler keinen Anspruch auf einen Vorläufigkeitsvermerk haben, durch die der Steuerbescheid hinsichtlich sämtlicher steuerlicher Verfahren, die beim Bundesfinanzhof, Bundesverfassungsgericht oder Europäischen Gerichtshof anhängig sind, für vorläufig erklärt werden (FG Köln vom 7. Dezember 2006, 10 K 3795/06).