Kurseinbrüche nach Brexit-Votum Verzockt - wenn die Börse zum Wettbüro verkommt

Crash an den Börsen: Die Aktienkurse brachen nach dem Brexit-Entscheid europaweit ein. Der Dax verlor zeitweise 10 Prozent

Crash an den Börsen: Die Aktienkurse brachen nach dem Brexit-Entscheid europaweit ein. Der Dax verlor zeitweise 10 Prozent

Foto: Frank Rumpenhorst/ dpa

Wie kann man nur so grandios daneben liegen? Nachdem die Brexit-Angst noch in der Vorwoche für heftige Kursverluste gesorgt hatte, herrschte in dieser Woche an der Börse eitel Sonnenschein. Brexit? Nie gehört, schienen sich die Börsianer zu sagen. So konnte der Dax von seinem Tief in der Vorwoche bis zum Handelsschluss am Donnerstag um beinahe 9 Prozent steigen.

Das war schon merkwürdig. Denn Umfragen unter Großbritanniens Bevölkerung deuteten bis zum Schluss auf ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen in der Brexit-Frage hin. Einen vernünftigen Grund für die Zuversicht der Investoren an der Börse schien es also kaum zu geben.

Und inzwischen ist klar: Es gab ihn tatsächlich nicht. Die Briten stimmten für den Austritt aus der EU - und die Aktienkurse sind massiv eingebrochen. Allein der Dax verbuchte am Freitag zum Handelsstart ein selten dagewesenes Minus von 10 Prozent. Wie kann es also sein, dass die Anleger beim Thema Brexit so gewaltig daneben lagen?

Darauf gibt es zwei Antworten, eine sehr konkrete und eine grundsätzliche. Und beide sprechen nicht eben für die Weisheit und Umsicht der Akteure am Aktienmarkt.

Die Börse als Zockerbude

Erstens: Viele Privatanleger hierzulande werden sich nun bestätigt sehen. Die Börse, so der gängige Vorbehalt, ist eine Zockerbude, wie sie im Buche steht. Unberechenbar und stets Ort größer Verlustrisiken.

Tatsächlich liegen die Skeptiker damit im aktuellen Fall gar nicht so falsch. Denn statt auf die Umfragen im Vorfeld des Brexit-Votums zu achten, die ja ein mindestens unklares Bild abgaben, beschlossen die Investoren offenbar stillschweigend, sich an jene Einrichtungen zu halten, die mit Fug und Recht als echte Zockerbuden bezeichnet werden können: die britischen Wettbüros.

Dort standen die Quoten bis zum Schluss immer klarer gegen einen Brexit - und mit jedem Tick, den die Chancen eines EU-Austritts nach Kalkulation der Wettanbieter abnahmen, stiegen an der Börse die Aktienkurse ein Stück weiter in die Höhe. Am Donnerstag, als die Abstimmung bereits lief, gingen die britischen Buchmacher von einer Brexit-Wahrscheinlichkeit von nur noch 15 Prozent aus.

Die Wettbüros lagen grandios daneben

Pferderennen in Wetherby: Börsianer schauen auf die Buchmacher - und umgekehrt

Pferderennen in Wetherby: Börsianer schauen auf die Buchmacher - und umgekehrt

Foto: Alex Livesey

Die Wettquoten seien bei den Briten schon in der Vergangenheit verlässlicher gewesen als die Umfragen, war als Begründung zu lesen. Doch die Sache hat selbstverständlich einen Haken: Auch der Aktienmarkt ist letztlich nichts anderes als ein Ort, an dem Wetten auf die Zukunft abgeschlossen werden. Wenn sich die Börse an Wettquoten orientiert, bedeutet das nichts anderes, als dass ein Wettender nachmacht, was der andere Wettende vorgemacht hat - und zwar ohne sich über dessen Beweggründe zu informieren.

Schlimmstenfalls, so die Gefahr, schielen in dieser Konstellation schließlich auch die Zocker in den Wettbüros bei ihrer Entscheidungsfindung auf die Aktienbörse. Die Folge wäre ein fataler Zirkelschluss, in dem sich ein Ahnungsloser auf den anderen verlässt.

Die Welt der Wirtschaft ist nicht alles - der Tunnelblick der Anleger

Der zweite Grund für den großen Brexit-Krach an den Aktienmärkten: Unter Börsianern dominiert das ökonomische Denken, das oft zudem mit der Prämisse behaftet ist, alle Akteure in einem Szenario würden sich rational und vernünftig verhalten.

In der Causa Brexit hieß das bis vor Kurzem: Alle wirtschaftlichen Argumente sprachen für den Verbleib der Briten in der EU, denn die Mitgliedschaft ist sowohl besser für die britische Wirtschaft insgesamt als auch für den Wohlstand jedes einzelnen Bürgers im Vereinigten Königreich. Jeder vernünftige Brite, so offenbar die Unterstellung der Börsianer, konnte sein Kreuz bei der Volksbefragung angesichts dessen nur an einer Stelle machen: Ja, ich will in der EU bleiben.

Tatsächlich jedoch sind wirtschaftliche Belange bekanntlich nur ein Teil dessen, was Menschen als Realität wahrnehmen. Und die rationale Vernunft ist nur allzu oft nicht der stärkste Einflussfaktor bei der menschlichen Entscheidungsfindung. Ein kurioser Beleg dafür ist an der Stelle just die Tatsache, dass sich die Börse vor dem Brexit-Votum offenbar mehr an Wettquoten als an Umfragen orientiert hat.

Die Briten jedenfalls haben mehrheitlich eine Entscheidung getroffen, die sich nach der Ansicht vieler Experten den meisten vernünftigen Erklärungsmustern entzieht. Damit haben sie viele Beobachter überrascht. Und vor allem offenbar viele Investoren an der Börse.

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