Börsenprofi Thomas Grüner erklärt Bullen vs Bären - warum Anleger Volatilität oft falsch verstehen

Bulle und Bär vor der Börse in Frankfurt: Je länger der Aufschwung am Aktienmarkt dauert, desto stärker werden die Schwankungen.
Foto: Frank Rumpenhorst/ picture alliance / dpaVergleicht man diverse Anlageklassen langfristig, verfügen Aktienmärkte über deutlich höhere Renditechancen als beispielsweise Anleihen, geldmarktnahe Anlagen oder Rohstoffe. Sicherheitsbewusste Anleger machen dennoch gerne einen großen Bogen um Aktien. Der Hauptgrund: die erhöhte Schwankungsbreite.

Thomas Grüner ist Gründer und Vice Chairman des Vermögensverwalters Grüner Fisher Investments (www.gruener-fisher.de ) mit Sitz in Rodenbach bei Kaiserslautern.
"Volatilität" ist ein schwieriges Thema, da viele Anleger eine einseitige Betrachtung an den Tag legen. Volatilität wird vor allem dann als solche wahrgenommen, wenn sich die Märkte nach unten bewegen - dementsprechend wird Volatilität sehr negativ interpretiert. Andererseits ist Volatilität gemäß dem Risiko-Rendite-Mechanismus genau die Ursache für erhöhte Renditechancen und Quelle der dynamischen Aufwärtsbewegungen.
Typischerweise ist die "gefühlte" Volatilität im Aktienmarkt höher als die tatsächliche Volatilität. Anleger sind sich ihrer Sache nur in euphorischen oder sehr optimistischen Marktphasen sicher, ansonsten sorgen bereits kleine Schwankungsbreiten für ein Gefühl der Unsicherheit. So auch in der aktuellen Marktphase: Lässt man die letzten beiden Jahre Revue passieren, macht sich wieder einmal das Gefühl breit, dass auf die Aktienmärkte alles Mögliche hereingebrochen ist.
Das 8. Jahr im laufenden Bullenmarkt (beginnend am 09. März 2016) war geprägt von einem extrem niedrigen Ölpreis, dem Brexit-Votum in Großbritannien und dem erbitterten Präsidentschaftswahlkampf in den USA.
Das 9. Jahr im Bullenmarkt, welches seit dem 09. März 2017 andauert, wurde durch politische Unsicherheit in Europa, permanente Diskussionen um die Notenbankpolitik und eine drohende Eskalation des USA-Nordkorea-Konflikts belastet. Gefühlte Volatilität? Sehr hoch. Tatsächliche Volatilität? Überraschend niedrig.

Das ist auch kein Wunder, denn wir befinden uns in der reifen Phase eines Bullenmarkts, welche natürlicherweise durch eine erhöhte Volatilität gekennzeichnet ist. Im direkten Vergleich mit dem Bullenmarkt der 90er Jahre zeigt sich, dass die Bullenmarktjahre Nummer 8 und 9 in den 90er Jahren von deutlich höheren Schwankungen geprägt waren als in der aktuellen Aufwärtsbewegung (siehe Grafik). Zwischen Oktober 1997 und Oktober 1999 sorgten die Ausläufer der Asien-Krise und die Pleite des Hedgefonds LTCM selbst im marktbreiten und global aufgestellten MSCI World Index für enorme Bewegung.
Je schmaler der Index, desto größer die Turbulenzen: 1998 stieg der deutsche Leitindex Dax um über 40 Prozent an, fiel anschließend unter sein Niveau vom Jahresbeginn und beendete das Börsenjahr mit einem Plus von rund 20 Prozent. Das ist Volatilität im reifen Bullenmarkt! Auf das heutige Kursniveau angewendet, könnte der Dax also innerhalb eines Jahres auf 18.000 Punkte steigen und wieder unter 13.000 Punkte zurückfallen. Wie würden Anleger mit dieser Situation umgehen? Viele würden wahrscheinlich von der hochgelobten passiven Haltung großen Abstand nehmen, denn aktuell genügen ja schon prozentual geringe Schwankungsbreiten, um mahnende Zeigefinger vor einer "Überbewertung" hervorzurufen und Crash-Propheten eine breite Brust zu verschaffen.
Mit steigenden Kursen hält der Optimismus weiter Einzug, allerdings bleibt die Marktstimmung sehr uneinheitlich. Einerseits geben viele Anleger ihre defensive Grundhaltung niemals auf, andererseits wechseln unzählige Marktteilnehmer von der Abwehrhaltung direkt in die totale Offensive. Bitcoins! Wie und wo kann ich jetzt eine gewaltige Rendite erreichen? Anleger wandeln gerne in Extremen: Sie überspringen einfach die "Risikoklasse Aktien" komplett und widmen sich direkt diversen Hebelprodukten, Kryptowährungen und anderen Spekulationen. Weiterhin fehlt in der Gesamtheit deutscher Anleger leider die "gesunde Mitte".
Es ist niemals einfach, sich in dieser "gesunden Mitte" der Aktienanleger zu bewegen. Dazu gehört vor allem eine grundlegende Akzeptanz gegenüber der vorherrschenden Volatilität. In jeder Phase der Marktstimmung muss man sich sozusagen selbst disziplinieren. Mutig sein, wenn der Pessimismus regiert, konsequent bleiben in der skeptischen Phase, Mäßigung bewahren bei echtem Optimismus und vorsichtig sein, wenn andere euphorisch werden. Nur dann kann es gelingen, Unternehmensbeteiligungen in Form von Aktien als selbstverständlichen Baustein der Vermögensanlage anzusehen. Produktivkapital für Werterhalt, Vermögensaufbau und als flexibles Hilfsmittel für die Altersvorsorge - Aktien sind vielseitig. "Volatilität" ist der Erzfeind der langfristigen Betrachtungsweise, deshalb ist es extrem wichtig, diese richtig einzuordnen.
Fazit
Der laufende Bullenmarkt wird Anleger in seiner reifen Phase noch vor weitere große Herausforderungen stellen. Im Vergleich mit den 90er Jahren sind die vergangenen Bullenmarktjahre sehr moderat verlaufen - volatilitätsarme Phasen werden allerdings fast gar nicht als solche wahrgenommen. Volatilität wird nur dann zum Thema, wenn sie nach unten gerichtet ist - genau hier liegt der Wahrnehmungsfehler, welcher den Aktienmärkten ein nachhaltiges Imageproblem beschert. Vielleicht ist es Zeit für einen Wechsel der Begrifflichkeiten: Wie wäre es mit "Dynamik" statt "Volatilität"? Eine gesteigerte Akzeptanz gegenüber Kursschwankungen wird vielen Anlegern im reifen Bullenmarkt definitiv helfen, ihre langfristigen Pläne konsequent durchzuziehen.