Streit über milliardenschwere Anleihekäufe EZB will Verfassungsgericht offenbar ignorieren

"Wir ändern unsere Geldpolitik in keiner Weise in Reaktion auf diese Entscheidung": EZB-Direktorin Isabel Schnabel
Foto: Michael Kappeler/dpaDas Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den milliardenschweren Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank vor wenigen Wochen sorgte für viel Aufsehen: Die obersten Richter entschieden, dass diese Anleihekäufe aus deutscher Sicht zum Teil verfassungswidrig seien, weil Bundesregierung und Bundestag sie nicht ausreichend geprüft hätten. Das Verfassungsgericht stellte sich mit dieser Auffassung gegen vorherige Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs.
Nun soll die EZB innerhalb von drei Monaten besser begründen, weshalb die Anleihekäufe mit dem Auftrag der Zentralbank, ausschließlich Geldpolitik, aber keine Wirtschaftspolitik zu betreiben, konform gehen. Auch Bundesregierung und Bundestag sollen die EZB dazu bewegen, diese verbesserte Begründung ihrer Maßnahmen zu liefern. Gelingt dies nicht, so die Karlsruher Richter, dann dürfe die Bundesbank künftig nicht mehr an den Anleihekäufen unter dem Programmnamen "PSPP" ("Public Sector Purchase Programme") teilnehmen.
Damit scheint der Ball also im Feld der EZB zu liegen - die Zentralbank sieht das aber offenbar anders. Das geht aus einem Interview hervor, das die "Financial Times" mit der deutschen EZB-Direktorin Isabel Schnabel geführt hat, und das in voller Länge auch auf der Website der Zentralbank veröffentlicht wurde.
Dem Interview zufolge plant die EZB, den Richterspruch aus Karlsruhe bei ihrer weiteren Geldpolitik mehr oder weniger zu ignorieren. "Wir ändern unsere Geldpolitik in keiner Weise in Reaktion auf diese Entscheidung", so EZB-Direktorin Schnabel.
Die Europäische Zentralbank befinde sich unter der Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs, so Schnabel. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts berühre die Zentralbank daher nicht direkt. Es richte sich vielmehr an die deutsche Regierung und das deutsche Parlament, die jetzt antworten müssten.
Auch aufgrund der Aufforderung, die Anleihekäufe, die unter dem Label "PSPP" laufen, besser zu begründen, sieht die EZB offenbar keinen Handlungsbedarf. "Ich würde sagen, das tun wir bereits", so Direktorin Schnabel gegenüber der "FT". "Das ist es, was Zentralbanken tun: Sie entwerfen geldpolitische Maßnahmen, diskutieren sie, wägen die Vor- und Nachteile ab. Das ist alles in verschiedenen Texten, die auf unserer Website zu finden sind, dokumentiert."
Wird die Europäische Zentralbank also bei ihren Anleihekäufen demnächst ohne die Bundesbank, ihren größten Anteilseigner, auskommen müssen? Direktorin Schnabel glaubt trotz allem nicht, dass es soweit kommen wird. Die Bundesbank werde das Problem gemeinsam mit der Bundesregierung und dem deutschen Parlament lösen, sagt sie. Sollte die EZB bei diesem Prozess unterstützen können, so werde sie das selbstverständlich tun.
Wohlgemerkt: Gestritten wird bei dem Thema ausschließlich über das Anleihekaufprogramm "PSPP", dass die EZB bereits im Jahr 2015 aufgelegt hat. Bis Ende 2018 hatte die Notenbank im Rahmen dieser Maßnahme rund 2,6 Billionen Euro in Staatsanleihen und andere Wertpapiere investiert. Die Deutsche Bundesbank als mit 26 Prozent größter Anteilseigner der EZB hatte einen entsprechend großen Anteil an den Käufen. Ende 2019 legte die EZB die Käufe zudem neu auf, diesmal mit einem monatlichen Volumen von zunächst 20 Milliarden Euro.
Vom Karlsruher Urteil explizit unberührt ist dagegen die aktuelle Corona-Hilfe der EZB: Im Rahmen des Corona-Notprogramms "PEPP" will die Zentralbank bis zum Jahresende Wertpapiere über 750 Milliarden Euro kaufen.
Und dabei soll es womöglich nicht bleiben. Das "PEPP"-Programm könnte sowohl im Umfang als auch in der Zusammensetzung angepasst werden, sagte Schnabel gegenüber der "FT". Ähnlich hatte sich schon am Dienstag Frankreichs Notenbankchef Francois Villeroy de Galhau geäußert.
Finanzmarktexperten erwarten nun, dass die EZB die Aufstockung des Corona-Programms schon auf der nächsten Ratssitzung am 4. Juni beschließen wird. Der Grund: Die Zentralbank legt bei den Wertpapierkäufen zurzeit ein so hohes Tempo vor, dass das PEPP-Programm bereits im Herbst ausschöpft sein dürfte.