Erste Sitzung der Zentralbank im neuen Jahr Was von der EZB im Jahr 2020 zu erwarten ist

Neue Herrin über die Zinsen: EZB-Präsidentin Christine Lagarde leitet am Donnerstag die erste Ratssitzung 2020.

Neue Herrin über die Zinsen: EZB-Präsidentin Christine Lagarde leitet am Donnerstag die erste Ratssitzung 2020.

Foto: REUTERS

Neues Jahr, neue Präsidentin, und bald wohl auch eine neue Strategie - am heutigen Donnerstag kommt in Frankfurt erstmals 2020 der Rat der Europäischen Zentralbank zusammen. Ein passender Anlass also, sich die Aktivitäten der Notenbank einmal genauer anzuschauen: Was ist in diesem Jahr eigentlich von der EZB zu erwarten?

Kurzer Rückblick: Zuletzt machte die EZB im September 2019 größer von sich reden, unter dem damals noch amtierenden Präsidenten Mario Draghi. Seinerzeit beschlossen die Währungshüter, einmal mehr tief in ihren Werkzeugkasten zu greifen, um den ihrer Ansicht nach bestehenden Abwärtsrisiken für die Euro-Konjunktur entgegenzutreten. Zwar ließen Draghi und Co den EZB-Leitzins unverändert bei 0 Prozent, auf dem Niveau also, auf dem sich der Zins bereits seit einigen Jahren und auch heute noch befindet. Sie senkten jedoch den Strafzins für Banken, die Gelder bei der Zentralbank parken, weiter von minus 0,4 auf minus 0,5 Prozent.

Zudem setzten die Zentralbanker im September ihre milliardenschweren Anleihekäufe wieder in Gang. Ende 2018 hatte die EZB ihr Kaufprogramm, in dessen Zuge sie seit 2015 Wertpapiere im Wert von rund 2,6 Billionen Euro gekauft hatte, zwar eingestellt. Im Herbst 2019 folgte dann jedoch die Kehrtwende. Seither kann die Notenbank wieder monatlich bis zu 20 Milliarden Euro in Anleihen stecken.

Der scheidende EZB-Präsident Mario Draghi übergab seiner Nachfolgerin Christine Lagarde also ein Institut, dessen Geldschleusen weit offen standen. Und er überließ ihr alle Optionen, diese Geldpolitik auf die eine oder andere Weise fortzusetzen. Eine sehr expansive Geldpolitik sei für längere Zeit nötig, sagte Draghi. Die EZB sei allerdings auch bereit, ihre geldpolitischen Instrumente "falls nötig anzupassen".

Wie wird Lagarde also mit diesem Erbe umgehen?

Zinsen bleiben zunächst unverändert niedrig, ...

Ein Blick auf die Einschätzungen von Beobachtern aus der Finanzbranche verrät: Kaum einer rechnet damit, dass die EZB mit der Französin an der Spitze in nächster Zeit merklich von ihrer gegenwärtigen Linie abweichen wird. Insbesondere bei seiner ersten Zusammenkunft im neuen Jahr dürfte der Zentralbankrat demnach kaum etwas am Status quo seiner geldpolitischen Aufstellung ändern.

Das heißt: Die Zinsen bleiben den Finanzprofis zufolge vorläufig unverändert auf niedrigstem Niveau, und auch am Anleihenkaufprogramm dürfte die EZB nach Meinung der Experten zunächst kaum rütteln. Wie sich die Lage im weiteren Jahresverlauf entwickelt, ist allerdings naturgemäß schwer abzuschätzen.

"Wir gehen davon aus, dass EZB-Präsidentin Christine Lagarde auf der Pressekonferenz ein in Summe etwas weniger pessimistisches Konjunkturbild zeichnen wird als in den zurückliegenden Monaten", teilt etwa das Investmenthaus Bantleon mit. "Für eine Änderung der offiziellen Wortwahl mit Blick auf die geldpolitische Ausrichtung der EZB dürften die zaghaften Anzeichen einer Verbesserung bei Konjunktur und Inflation aber noch nicht ausreichend sein."

Auch Franck Dixmier, Chef des globalen Rentengeschäfts bei Allianz Global Investors (AGI), glaubt nicht, dass EZB-Präsidentin Lagarde bei der ersten Sitzung 2020 geldpolitische Maßnahmen ankündigen wird. "Nach der Wirtschaftsschwäche im Jahr 2019 unterstützen die jüngsten Indikatoren - etwa die Einkaufsmanagerindizes - das Szenario der Zentralbank einer Rückkehr zu moderatem Wachstum", so Dixmier. Auch wichtige Inflationsindikatoren seien leicht gestiegen, und die geopolitischen Risiken sowie die Handelsspannungen scheinen dem AGI-Experten zufolge nachzulassen. "In diesem Umfeld gibt es keine Rechtfertigung für Maßnahmen der EZB in irgendeine Richtung", sagt Dixmier.

Die Schweizer Großbank UBS erwartet ebenfalls nicht, dass die EZB momentan von ihrem "Wait and see"-Modus abrücken wird, ebenso wenig wie beispielsweise die DZ Bank oder die Deutsche-Bank-Fondstochter DWS.

... doch was kommt Ende 2020/Anfang 2021?

Doch wie wird sich die Lage in den kommenden Monaten weiterentwickeln? Und wie wird die EZB womöglich darauf reagieren? Verschiedene Volkswirte erkennen Anzeichen einer sich zuletzt leicht verbessernden konjunkturellen Lage in der Euro-Zone. Auch die Inflationsrate, an der sich die EZB ihrem offiziellen Auftrag zufolge in erster Linie orientieren sollte, ist zuletzt leicht angestiegen. Aber wird sich dieser Trend fortsetzen? Und wird dies gegebenenfalls ausreichen, um die EZB zu einer Kursveränderung zu bewegen?

Den Experten vom Investmenthaus Bantleon zufolge erscheint das offenbar möglich. Die bisherigen Prognosen der EZB für Wirtschaftswachstum und Inflation werden sich nach Einschätzung des Unternehmens als zu vorsichtig herausstellen. Die Inflationsrate dürfte im Durchschnitt dieses Jahres bei 1,4 Prozent liegen und damit 0,3 Prozentpunkte höher als von den Währungshütern aktuell unterstellt, so Bantleon. Belebe sich die Konjunktur wie von den Analysten erwartet in den nächsten Monaten, sei auch die EZB-Annahme eines BIP-Zuwachses um 1,1 Prozent zu konservativ.

Das Fazit Bantleons daher: "Eine nochmalige Leitzinssenkung ist damit unserer Meinung nach vom Tisch." Vielmehr stehe im Herbst 2020 ein wichtiger Einschnitt an. Zunächst könnte sich die EZB dann laut Bantleon entschließen, ihr Anleihenkaufprogramm zu beenden. Und im Jahr 2021 wäre nach Überzeugung des Investmenthauses "der Weg für höhere Leitzinsen frei".

Wohlgemerkt: Das ist nur ein mögliches Szenario. Ein anderes, etwas skeptischeres, skizziert beispielsweise Ulrike Kastens, Volkswirtin bei der DWS. "Aufgrund der nur schleppenden Bodenbildung der Frühindikatoren dürfte der Ausblick vorsichtig bleiben", sagt sie. Die EZB-Formulierung "die Risiken sind leicht abwärts gerichtet" bleibe also wohl bestehen, und damit auch die Tendenz, die Geldpolitik eher zu lockern als zu straffen. "Daran dürfte sich erst etwas ändern, wenn eine Konjunkturaufhellung sichtbarer wird und die Abwärtsrisiken entsprechend nachhaltiger zurückgehen", so Kastens.

Geldpolitische Strategie im Fokus

Die operative Geldpolitik ist allerdings nur ein Teil der EZB-Aktivitäten, die 2020 im Fokus stehen werden. Ein anderer ist die grundlegende Überprüfung ihrer geldpolitischen Strategie, die die EZB bereits angekündigt hat. Viele Beobachter erwarten, dass EZB-Präsidentin Lagarde zu diesem Thema bereits nach der heutigen Ratssitzung genauere Informationen und Details nennen wird.

Worum geht es dabei? Seit Jahren versucht die EZB inzwischen, mit niedrigsten Zinsen die von ihr als Leitgröße verfolgte Inflationsrate nach oben zu treiben. Bislang jedoch vergeblich - die Preissteigerungsrate in der Eurozone stieg zuletzt zwar leicht auf etwa 1,3 Prozent. Sie befindet sich damit aber noch immer weit vom EZB-Zielwert von 2 Prozent entfernt.

Für die Zentralbank ist das ein Grund, ihre Strategie einmal grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen. Ist die Inflationsrate eigentlich noch die richtige Orientierungsgröße? Ist der angestrebte Wert von 2 Prozent nach wie vor angemessen? Wie sollte eine Inflationsrate in Zeiten von Digitalisierung und weltweit vernetzten Finanz-, Güter- und Dienstleistungsströmen überhaupt berechnet werden? Solche und weitere Fragen dürften dabei auf der Agenda stehen.

"Von zentraler Bedeutung ist eine klare Definition des Preisstabilitätsziels, des einzigen Mandats der EZB", sagt dazu AGI-Manager Dixmier. "Die derzeitige Definition des Inflationsziels als 'unter, aber nahe 2 Prozent' ist zu vage, unterliegt vielfältigen Interpretationen und hat wahrscheinlich ihre Grenzen erreicht."

Auch die Messung der Inflation ist laut Dixmier ein wichtiges Thema, insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Integration von Immobilienpreisen. Letztere werden derzeit bei der Kalkulation der für die EZB relevanten Preissteigerungen nicht berücksichtigt. "Darüber hinaus gibt es Fragen hinsichtlich der Wirksamkeit der Geldpolitik und ihrer Instrumente", so der Experte. "Negative Zinssätze und EZB-Wertpapierkäufe stehen angesichts des dadurch bedingten Renditerückgangs bei beliebten Sparprodukten wie etwa Lebensversicherungen und Bankeinlagen stark in der öffentlichen Kritik."

Kreiert Lagarde die erste "grüne" Zentralbank?

Und noch ein Thema könnte EZB-Präsidentin Christine Lagarde auf die Agenda ihres Instituts setzen - und damit würde sie für Zentralbanken rund um den Globus wohl so etwas wie Neuland betreten. Die Rede ist vom Megatrend Nachhaltigkeit sowie dem gegenwärtig heiß diskutierten Klimawandel.

Schon bei ihrer Anhörung im EU-Parlament Ende 2019 kam die neue EZB-Präsidentin auf das Thema zu sprechen. "Wir müssen den Klimawandel in unserer Arbeit berücksichtigen", sagte Lagarde seinerzeit. Die bevorstehende Überprüfung der Strategie der EZB wäre nach ihrer Ansicht eine Gelegenheit, über nachhaltige Geldpolitik nachzudenken. Das Klimarisiko, so Lagarde, sollte "im Mittelpunkt unseres Handelns stehen".

Macht Christine Lagarde also womöglich als erste EZB-Präsidentin aus der Zentralbank ein grünes Institut? Scott Freedman zumindest, Co-Manager eines Nachhaltigkeitsfonds von BNY Mellon, hofft darauf. "Die EZB hält nach neuen Investitionsmöglichkeiten Ausschau", sagt er. "Angesichts der zunehmenden Besorgnis über den Klimawandel könnten Anleger erleben, dass sich die EZB dazu verpflichtet, mehr Green Bonds als Teil eines geldpolitischen Konjunkturpakets zu kaufen."

Das klingt zwar hypothetisch. Sollte die EZB im Zuge ihrer Neuausrichtung allerdings tatsächlich "Green Bonds", auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Anleihen also, in den Fokus nehmen, so würde das dem ohnehin wachsende Markt für nachhaltige Geldanlagen zweifellos einen zusätzlichen Schub verleihen.

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