Jugoslawien Schlafloses Belgrad feiert den Sieg im Volksaufstand
Belgrad - Eine junge Frau tanzt auf einem Polizeiauto. Dann springt sie herab, um einen Polizisten zu küssen. Aus einem Lautsprecher plärrt der Gloria-Gaynor-Song "I will survive". Aber Slobodan Milosevic ist nach 13 Jahren autokratischer Herrschaft am Ende.
Nach den bürgerkriegsähnlichen Szenen vor dem Parlament und dem staatlichen Fernsehen am späten Donnerstag nachmittag feiert die Zwei-Millionen-Einwohner-Stadt in der Nacht zum Freitag eine riesige Party. Überall wird die blau-weiß-rote Fahne Serbiens geschwenkt. Und immer wieder wird der Arm zum Drei-Finger-Signal der serbischen Einheit in den Nachthimmel gereckt.
"Haben mit Milosevic Schluss gemacht"
"Wir sind nach Belgrad gekommen, um mit ihm Schluss zu machen, und das haben wir auch getan", sagt der 41-jährige Janko Bacic. In der einen Hand hält er eine Flasche Weinbrand, in der anderen das Bein eines Stuhls aus dem Parlamentsgebäude.
"Ja, damit habe ich gekämpft", sagt Bacic und schwingt das Stuhlbein in der Luft. "Wir sind froh, dass die Polizei nicht geschossen hat." Erstaunlich schnell hatten die Sicherheitskräfte vor dem Parlament und anderen staatlichen Einrichtungen ihren Platz verlassen, als die Menge zum Sturm ansetzte. Wenige Stunden später sind sie in den Menschenmassen untergetaucht und umarmen dieselben Leute, die sie über Jahre hinweg mit Schlagstock und Tränengas bedroht hatten.
Milosevic untergetaucht - Sorge um Gegenschlag
Wo Milosevic geblieben ist, weiß niemand. Die Oppositionsführer sorgen sich, dass er seine letzten Kräfte zu einem nächtlichen Gegenschlag sammeln könnte. "Belgrad muss die ganze Nacht aufbleiben", ruft der Bürgermeister der Oppositionshochburg Cacak der Menge vor dem Parlament zu.
Doch kaum einer in der Menge brauchte diese Aufforderung. Nach einer solchen Revolution kann man nicht einfach nach Hause gehen und schlafen.
Vor dem Kuppelbau des Parlaments drücken drei Jugendliche voller Genugtuung ihre Zigaretten auf einem gerahmten Porträt Milosevics aus, das wie viele andere aus dem Gebäude geworfen wurde.
Nach der revolutionären Tat die große Party
Viele einfache Einwohner von Belgrad, die sich aus der Politik heraushalten wollten, waren erst entsetzt, als sie das Parlament in Flammen sahen. Später gingen auch sie auf die Straße und spekulierten über die eigene Zukunft wie die des gestürzten Machthabers.
"Ich weiß nicht, was mir lieber wäre", sagt der 59 Jahre alte Bankangestellte Jovan Malekovic, "ihn für alle seine Schandtaten vor Gericht zu sehen oder nie wieder etwas von ihm zu hören."
"Auf diesen Tag habe ich 55 Jahre lang gewartet"
Der Volksaufstand blieb nicht ohne Blutvergießen. Im Tumult wurden zwei Menschen getötet und mehrere dutzend verletzt. Mehrere Polizisten und auch der Direktor des Staatsfernsehens, Dragoljub Milanovic, wurden zusammengeschlagen.
Nach Einbruch der Dunkelheit gingen zahlreiche Scheiben von Geschäften zu Bruch - ihre Besitzer sollen zu den Handlangern Milosevics gehört haben. Plünderer machten Beute. Die Oppositionsführer riefen die Menge zur Mäßigung auf, um den Triumph nicht zu trüben.
Doch die große Mehrheit hat nur einen Gedanken: Ein Traum ist Wirklichkeit geworfen. "Ich war noch jung, als die Kommunisten an die Macht kamen", sagt die 81 Jahre alte Katarina Jakovljevic unter Tränen. "Auf diesen Tag habe ich 55 Jahre lang gewartet!"