AOL TV Websurfen im Fernsehsessel
Miami - Noch vor Ende des Sommers wird America Online in den USA seinen lange angekündigten interaktiven Fernsehdienst AOL TV starten. Der Service soll zunächst in Baltimore und dann in Phoenix verfügbar sein, sechs weitere US-Metropolen werden bis Jahresende folgen.
"AOL TV erfindet das Fernsehen neu", tönte America-Online-CEO Steve Case jüngst zum Start des neuen Dienstes. Dabei bringt AOL TV zunächst nur wenig Revolutionäres in die Wohnstuben: Der TV-Schirm wird lediglich um Internet-Funktionen erweitert. Abonnenten können damit künftig zwar über die konventionelle Glotze im Web surfen, chatten oder E-Mails abrufen, Funktionen für "echtes" interaktives Fernsehen sollen jedoch erst Anfang nächsten Jahres integriert werden.
In Kooperation mit dem "Personal-Video"-Hersteller TiVo entwickelt AOL derzeit ein System, das die digitale Aufnahme von Fernsehprogrammen und Unterbrechungen laufender Sendungen zulässt. Der Online-Dienst arbeitet auch an der Integration von High-Speed-Netzzugängen via Fernsehkabel.
Time Warner verschafft AOL die notwendigen Inhalte
Die Nutzer von AOL TV benötigen eine Settop-Box, über die der Fernseher mit der Telefonleitung verbunden wird. Mit einer kabellosen Tastatur lässt sich bequem vom Sofasessel aus im Netz surfen. Die briefbörsengroßen schwarzen Settop-Kästen kosten knapp 250 Dollar und werden im Zuge eines Marketingdeals ab August exklusiv bei der US-Händlerkette "Circuit City" erhältlich sein.
Die monatliche Nutzungsgebühr liegt bei stolzen 24,95 Dollar, AOL-Abonnenten bezahlen zusätzliche 14,95 Dollar zu ihrer Monatspauschale.
America-Online-Konkurrent Microsoft setzt bereits seit Jahren mit seinem WebTV-Dienst auf ein ähnliches Konzept. Bislang allerdings nur mit mäßigem Erfolg: Vier Jahre nach dem Start nutzt gerade mal eine Million User WebTV. Ob es AOL TV gelingen wird, seine 23 Millionen Abonnenten für den TV-Service gewinnen zu können, hängt vor allem auch vom Contentangebot ab.
In dieser Hinsicht scheint AOL nach der Fusion mit Time Warner bestens gerüstet: Neben einem gigantischen Unterhaltungspotpourri aus Spielfilmen, Shows, Serien oder Kinderprogrammen kann AOL TV auf den Fundus der Time-Warner-Fernsehnetworks CNN, Showtime oder E! Entertainment sowie das gesamte Portfolio der Warner Music Group zugreifen.
Die Deutschen müssen noch warten
Da AOL Time Warner damit zum einen über Inhalte, zum anderen auch über die Infrastruktur zur Bereitstellung des Contents verfügt, befürchten US-Verbraucherschützer und Konkurrenten bereits eine Monopolstellung und Missbrauch.
America-Online-Chef Case wies jüngst in der "Washington Post" alle Bedenken der Medienbranche zurück: "Niemand hat etwa zu befürchten. AOL TV wird eine offene Plattform sein und eröffnet dadurch allen Programmmachern ganz neue Möglichkeiten." Sollte AOL Time Warner dieses Versprechen umsetzen, könnte die seit Jahren vielgepriesene Konvergenz endlich einen ordentlichen Schub bekommen.
Unabhängig davon schätzt Jupiter Communications, dass bis im Jahr 2004 29 Prozent aller US-Haushalte interaktive Fernsehdienste nutzen werden. In Deutschland wartet man indes vergebens auf das AOL-Fernsehen: Wie AOL-Sprecherin Martha Powers versichert, ist ein Start in Europa bislang nicht geplant.
Jochen A. Siegle, Miami