Baukästen im Autobau Modellfeuerwerk aus der Retorte

In Volkswagens modularem Querbaukasten sind Radgröße, Spurbreite und Sitzpositionen variabel
Foto: VolkswagenHamburg - Gemächlichkeit ist eine Eigenschaft, die nicht so richtig ins Weltbild des Autoherstellers Audi passt. Viele Werbemillionen haben die Ingolstädter in den vergangenen Jahren investiert, um ihre Autos als rasante Gefährte für aufstrebende Manager zu positionieren. Fast ebenso rastlos waren die Audi-Manager bei der Einführung neuer Modelle. Die charakteristischen vier Ringe zieren mittlerweile den Kühlergrill von großen und kompakten Geländeautos, Kleinwagen und Coupélimousinen.
Nur bei seinem Verkaufsschlager A3 leistete sich Audi eine gehörige Portion Behäbigkeit. Für den Kompaktwagen gab es zwar immer wieder mal ein Facelift mit neuen Scheinwerfern, sparsameren Motoren und ein paar optischen Gimmicks. Doch an der Grundarchitektur änderte sich nichts. Ganze neun Jahre ließen sich die Audi-Ingenieure Zeit, um den A3 auf eine komplett neue Basis zu stellen. Das ist eine Ewigkeit in einer Branche, die sonst alle sieben bis acht Jahre ihre Baureihen erneuert.
In wenigen Wochen hat das Warten ein Ende. Auf dem Genfer Autosalon Anfang März stellt Audi den neuen A3 öffentlich vor. Für das lange Zögern hat der Autobauer aber einen guten Grund. Denn der neue A3 ist das erste Modell, das auf einer neuen Fahrzeugarchitektur von Audis Konzernmutter Volkswagen basiert.
Mit dem so genannten Modularen Querbaukasten (MQB) will VW den Bau künftiger Konzernmodelle vom Klein- bis zum Mittelklassewagen stark vereinheitlichen - und dabei seinen Designern gleichzeitig mehr Freiheiten für Nischenmodelle geben.
Das klingt wie ein Widerspruch in sich selbst. Bisher setzte VW auf einheitliche Plattformen. So teilt sich der A3 die technische Basis mit dem VW Golf, dem Seat Leon und dem Skoda Oktavia. Das erlaubt zwar den Einsatz vieler gleicher Teile über verschiedene Konzernmarken hinweg. Doch die Plattform-Bauweise schränkt Ingenieure bei der Entwicklung neuer Modelle auch ein: Bei Radgröße oder Achsenabstand gibt es je Plattform kaum Spielraum.
Modularer Querbaukasten ist Basis für bis zu 40 neue Modelle
Seit VW-Chef Martin Winterkorn 2006 sein Amt antrat, haben er und sein Entwicklungsvorstand Ulrich Hackenberg viel Geld und Zeit in den Aufbau einer flexibleren Bauweise investiert. Künftig können Ingenieure vordefinierte Achsen, Vorder- und Hinterwägen sowie Sitze auf eine Bodenplatte setzen. Dabei sind sie aber etwa bei Radständen oder Sitzpositionen flexibler als früher. Dazu packen sie passende Motoren, Getriebe und Elektronikkomponenten aus dem VW-eigenen Baukasten, Designer verpacken das alles in eine passende Hülle - und fertig ist das neue Konzernmodell.
Bei seinen Mittel- und Oberklassemodellen von Audi setzt Volkswagen bereits seit Jahren auf einen modularen Längsbaukasten, die künftige Tochter Porsche entwickelt gerade einen modularen Sportbaukasten für große Limousinen und die noble VW-Tochter Bentley. Doch der nun startende MQB soll die Basis für Volkswagens Kerngeschäft sein - und das sind nun mal Modelle von der Klein- bis hin zur Mittelklasse.
Insgesamt will der Volkswagen-Konzern 40 neue Modelle auf Basis des MQB bauen. Der Baukasten gibt etwa nur den Abstand zwischen Gaspedal zur Radmitte vor. Die Radstände, Spurbreiten oder Sitzpositionen können auf Marke und Modell angepasst werden. Da die Quereinbaulage der Motoren fest vorgegeben ist, lassen sich bei neuen Modellen verschiedene Motorisierungen integrieren - vom Ottomotor über den Elektroantrieb bis hin zu Erdgasmotoren. Um rund 90 Prozent will VW so die Motor- und Getriebevarianten im MQB reduzieren, ohne dass sich die Auswahl für Kunden verringert.
Mit der neuen Architektur kann der Audi A3 gemeinsam mit den VW-Modellen Golf, Passat, Tiguan oder Polo von einem Band laufen. Für VW hat die neue Architektur einen Kostenvorteil: In den Modellen der unterschiedlichen Marken lassen sich sehr viele gleiche Teile verwenden. So können künftig etwa Sitzgestänge und die dazugehörigen Steuerungselektronik für Passat und Polo identisch sein und sich einzig in der Auspolsterung und den Stoffen unterscheiden.
Damit kann Volkswagen mit viel größeren Stückzahlen je verbauter Komponente kalkulieren. Das wiederum wird die Einkaufspreise deutlich senken. Bis zu 90 Prozent Gleichteile strebt VW bei den künftigen Modellen des MQB an - vom Kleinwagen Polo bis hin zum Mittelklassewagen Passat.
Standardisierung als Basis für Volkswagens Expansionspläne
Die neue Konstruktionsweise soll VW Einsparungen von bis zu 20 Prozent bei den Kosten je Fahrzeug bringen, die Produktionszeiten sollen um ein Drittel sinken. Leichter werden die auf dem MQB basierenden Fahrzeuge obendrein. So wird die siebente Generation von VWs Bestseller Golf, die ebenfalls auf dem MQB basiert und ab November in den Handel kommt, um 40 Kilogramm weniger wiegen als das aktuelle Modell.
Der Drang zur neuen Einfachheit ist durchaus nachvollziehbar: Mehr als 220 Modelle stellt der VW-Konzern mit seinen zehn Marken in weltweit 90 Standorten her. Die Standardisierung von Komponenten und Bauteilen ist einer der Schlüssel in VWs Plan, bis 2018 zum größten Automobilhersteller der Welt aufzusteigen.
Der Nebeneffekt: Wenn die Produktion von Autos dank Baukasten um ein Fünftel weniger kostet, steigt auch die Profitabilität bei den volumenstarken, aber bislang weniger rentablen Kleinwagen.
Die Entwicklung von gewinnträchtigen Nischenmodellen wird durch den Baukasten ebenfalls leichter. Ab einer Stückzahl von 30.000 Fahrzeugen pro Jahr lassen sich auch exotischere Fahrzeugvarianten mit Gewinn verkaufen, heißt es aus VW-Kreisen. Zudem hat der Baukasten noch einen weiteren Vorteil, sagt Andreas Baader von der Unternehmensberatung Barkawi Management Consultants: "Volkswagen vereinheitlicht nicht nur die Komponenten, sondern auch die Fertigungstechnik."
Daimler setzt auf Module, BMW auf Gleichteile
Dieser Trend gilt auch für die anderen Autohersteller. Rund um den Globus eröffnen die Autobauer neue Werke - teils auch, weil sie nur so hohe Importzölle umgehen können. Die Produktion verteilt sich damit stärker auf verschiedene Weltregionen und wird kleinteiliger. Manche Werke stellen nur Pressteile her, andere sind ausschließlich für die Endmontage vorgesehen. Die Lieferketten zwischen den Werken werden dadurch komplizierter. Da sei ein Baukastensystem, das sowohl die Technik selbst als auch die Art des Fertigens umfasst, "Gold wert", sagt Unternehmensberater Baader gegenüber manager magazin online.
Außerdem seien Lieferanten schneller zu Investitionen in lokale Werke bereit, wenn sie Teile eines Baukastens zuliefern. Doch für manche Modelle in aufstrebenden Märkten könne der MQB auch Nachteile bringen, meint Baader. "Die untere Eintrittsschwelle wird schwieriger", sagt er. Billigautos lassen sich mit dem MQB nicht so gut darstellen.
Wohl auch deshalb hat VW sein neues Kleinfahrzeug Up! nicht in den MQB-Verbund aufgenommen, sondern auf eine eigene Plattform gestellt.
Konzeptionell sei VW mit seinem Baukasten "mit Abstand am weitesten", bestätigt ein Branchenkenner. Doch auch andere deutsche Autohersteller setzen auf flexiblere Architekturen und die Verwendung vieler Gleichteile etwa bei elektronischen Fensterhebern, Klimaanlagen und Steuerungselektronik. Da der Kunde diese Teile nicht sieht, bekommt er von der inneren Ähnlichkeit zwischen den Modellen nichts mit. BMW etwa verwendet gleiche Bauteile in seiner 3er und 5er-Serie. Künftig werden sich die BMW-Kleinwagenmarke Mini und der hauseigene 1er eine Plattform und viele Komponenten teilen.
Auch Mercedes bastelt an einer Baukastenarchitektur für seine Modelle. Die Schwaben wollen sich stärker als Massenhersteller positionieren und bis 2020 größer und rentabler sein als ihre Premiumklasse-Konkurrenten BMW, Audi und Lexus. Das kann nur mit einem Baukasten-Konzept gelingen, sind Experten überzeugt. Künftig werde Daimler bei Mercedes nur mehr drei Hauptarchitekturen für die Fahrzeuge mit dem Stern zulassen: Eine für kompakte Fronttriebler, eine für heckgetriebene Limousinen und eine für Geländewagen. Ab 2014 will Daimler so jährlich 1,5 Milliarden Euro an Kosten sparen.
Doch ohne Spannungen geht der Wandel bei Daimler nicht von der Hand. "Da ist schon eine sehr große kulturelle Herausforderung", sagt ein Insider. Denn bislang hatten die Baureihenleiter bei Mercedes viel Macht - einen Teil davon müssen sie nun aufgeben.
Drang zur Vereinheitlichung birgt auch Gefahren
Große internationale Konkurrenten bleiben jedoch althergebrachten Strategien treu, um die Kosten zu senken. Ford will noch stärker als bisher auf weltweit einheitliche Plattformen setzen, bei denen Autos nur in geringem Maß lokalen Geschmäckern angepasst werden. Die Plattformzahl im Konzern will der US-Autobauer auf neun senken - vor zwei Jahren waren es noch 25. Zudem will Ford die Zahl seiner derzeit 1500 Zulieferer halbieren.
General Motors hält wohl auch aus Geldgründen ebenfalls an seinem Plattform-Konzept fest. Und Toyota setzt schon seit Jahren auf einen hohen Anteil an Gleichteilen über verschiedene Baureihen hinweg. Flexible Baukästen wie bei VW haben die Japaner noch nicht angekündigt.
Ob nun Plattform oder flexibler Baukasten: Klar ist, dass die Vereinheitlichung von Komponenten in der Autobranche zunimmt. Mit wie viel Nachdruck die großen Autohersteller ihre Produktion umstellen, zeigt eine Studie der Unternehmensberatung Frost & Sullivan. Bis 2020 werden die zwölf weltgrößten Automobilhersteller die Zahl ihrer Plattformen um 30 Prozent reduzieren, prognostizieren die Unternehmensberater.
In acht Jahren werden mehr als 95 Prozent aller Neufahrzeuge von Daimler und Volkswagen mit ihrer der drei Baukasten-Architekturen produziert, sagen die Autoren voraus.
Beispiel Toyota Baukästen steigern Gefahr millionenfacher Rückrufe
Die so starke Standardisierung und der millionenfache Einsatz gleicher Komponenten bergen auch Gefahren. Fehler im Design der Bauteile betreffen dann gleich Millionen Fahrzeuge. Wie schnell das auf das Image durchschlägt, hat tiefe Fall des japanische Autoherstellers Toyota in den vergangenen Jahren gezeigt.
"Das ist eines der größten Verwundbarkeitsrisiken der Branche", sagt Stefan Bratzel, Leiter des Center of Automotive der Fachhochschule Bergisch-Gladbach. "Das Risiko für Rückrufe wird durch die Baukästen noch steigen", warnt er.
Bereits in den vergangenen Jahren haben die Hersteller eine große Zahl an Fahrzeugen in die Werkstätten beordert, hat Bratzel in einer Studie über den US-Automarkt ermittelt. Laut Bratzel eignet sich der amerikanische Markt für Rückrufsuntersuchungen besonders gut, da die Hersteller wegen drohender Klagen besonders vorsichtig sind und mögliche Sicherheitsmängel an ihren Fahrzeugen relativ offen zugeben. In Deutschland werden etliche Nachbesserungen im Zuge der üblichen Werkstattbesuche erledigt - ohne dass die Kunden davon viel mitbekommen.
Seit 2008 wurden in den USA 47 Millionen Fahrzeuge wegen verschiedener Defekte zurückgerufen, zeigt Bratzels Studie auf. Das kostet die Hersteller viel Geld und ist schlecht fürs Image. Bei der Fertigung mit Hilfe des Baukastens muss das Qualitätsmanagement "enorm " verbessert werden, fordert Bratzel deshalb. Qualitätsmanager müssen eine im Unternehmen akzeptierte Vetomacht besitzen, wenn der Vertrieb Druck ausübt und schnell neue Fahrzeuge für seine Märkte haben möchte. Um sich in solchen Konflikten durchzusetzen, müssen die Qualitätsmanager auf eine starke Unterstützung durch den Vorstand bauen können.
Winterkorn und seinen Managern ist das Problem vermutlich bewusst. Denn das Toyota-Debakel haben die VW-Manager noch in guter Erinnerung. Dennoch: Das wichtige Thema Qualitätssicherung wird in den Presseaussendungen zum MQB bislang mit keinem Wort erwähnt.