"Mein Jahr unter Spekulanten" "George macht keine Anlageberatung"
Was bewunderte ich eigentlich so sehr an ihm? Die Milliarden, die George Soros den Märkten abgenommen hatte, weil er klüger war als die Mehrheit, oder die Milliarden, die er wieder ausgegeben hatte, weil er sich anscheinend um jene Mehrheit sorgte? Seine geistige Unabhängigkeit?
Selbst in seinen philanthropischen Bemühungen war er stets eigensinnig gewesen. Statt sich altbekannten Themen zu widmen, hatte er bereits Anfang der achtziger Jahre Künstler und Dissidenten in Ostblockländern finanziell unterstützt in der Hoffnung, dass sie irgendwann die Elite einer offenen Gesellschaft im Popper'schen Sinne bilden würden.
Vielleicht war es sein ewiges Lächeln, das ich aus Fernsehinterviews kannte und von dem unklar war, aus welcher Quelle es sich eigentlich speiste. Lächelte er über die menschliche Unvollkommenheit? Sich selbst? Weil er wusste, dass einem Schlimmeres im Leben widerfahren konnte als ein Börsencrash?
Ich mochte ihn, weil ich in ihm den Jungen sah, der mit vierzehn die Identität eines Pfandfinders namens Sandor Kiss angenommen hatte, um der Deportation zu entgehen; es gefiel mir, dass er von seinen Fehlern sprach, als seien es Stärken: seinem mangelnden Talent für die Mathematik, das eine Unilaufbahn verhindert habe, seiner Distanziertheit als Vater und als Ehemann, der Sinnlosigkeit des Geldmachens, die ihm nach seiner Scheidung bewusst geworden sei. Und wie er mit fünfzig versucht habe, seine Schwächen in einer Psychoanalyse zu ergründen, über die er ebenso freimütig Auskunft gab wie über alles andere. Durch den Anschein der Grandiosität, sagte er, habe er eine Scham wettzumachen versucht, die ihm unter den Nazis eingepflanzt worden sei und die, nachdem er sie ans Tageslicht geholt hatte, zerbröselt sei wie ein herausoperierter Gallenstein.
Ich mochte sogar seine Bücher, diese anstrengenden Traktate, ich fand es irgendwie rührend, wie er darin immer wieder auf die "Reflexivität" zurückkam, als glaube er nicht, dass seine Worte jemals irgendwen überzeugen könnten. Seine Kritiker machten sich über seine Texte lustig, und das Allertollste war, dass er diese Kritik einfach annahm. Dabei wäre es an seiner Stelle so naheliegend gewesen, eine Verschwörung neoliberaler Finsterlinge zu vermuten. Stattdessen gab er zu, dass ihm das Schreiben nicht in die Wiege gelegt sei, und heuerte Privatlehrer an, legte seine Manuskripte Philosophen vor, versuchte, sich zu verbessern. Gibt es etwas Großartigeres als einen Menschen, der seine eigene Fehlbarkeit erträgt, aber an den wichtigen Stellen auf dem besteht, woran er glaubt?
Unermüdlich verbreitete er seine Ideen von den Gefahren wild wachsender Märkte, gab viel Geld für die Wahlkämpfe der Demokraten aus, um Bush egal durch wen zu ersetzen. Jahrelang hatte er politisch auf der Verliererseite gestanden, wie bei einer Investition, bei der die Kurse in die falsche Richtung laufen, aber er hatte seine Position nie aufgegeben, und jetzt bekam er recht. Die Systemkrise, vor der er gewarnt hatte, war da, und im Sommer hatte er vor einem Senatsausschuss erklären dürfen, warum die Märkte so labil geworden waren.
Ich las seine Rede und stellte fest, dass er sich wirklich verbessert hatte: seine Argumentation war klarer als je zuvor, das R-Wort tauchte nur vier Mal auf. Nebenbei hatte er noch einmal als Spekulant geglänzt: Sein Quantum Fonds, in dessen Management er zurückgekehrt war, hatte 2008 mit einem Plus von acht Prozent abgeschlossen (die sich in diesem Fall auf 1,1 Milliarden Dollar beliefen).
Wie ein verliebter Teenager
Das ganze Jahr über hatte ich wie ein verliebter Teenager alles über ihn gelesen, ich hatte mich in seine Biografie vertieft und in die Autobiografie seines Vaters, des Esperanto-Anhängers. Ich kannte die Namen seiner Kinder, seiner beiden Ehefrauen, ich hatte eine Vorstellung von El Mirador, seinem Anwesen auf Long Island, und ich wusste, wie die Donauinsel hieß, auf der er als Kind seine Sommer verbracht hatte (Lupa).
Sein Vater war ein Überlebenskünstler gewesen, der seine Familie mit falschen Papieren vor den Nazis geschützt hatte, seine Mutter nur halb glücklich mit ihrem Mann, der selbst die Okkupation für eine Affäre nutzte, weshalb sie sich offenbar ein bisschen zu sehr auf den jungen György gestürzt hatte. Ich wusste mehr über ihn, und das ist keine Übertreibung, als ich je über einen meiner Großväter gewusst habe, und es gab keinen Menschen auf der Welt, den ich lieber kennengelernt hätte als ihn: Soros. Scho-rosch. Sarush. Ihm in die Augen zu schauen, dachte ich, das wäre, als würde man dem 20. Jahrhundert ins Gesicht sehen. (...)
Wenn man versucht, einen Termin bei George Soros zu bekommen, landet man in einem Büro irgendwo in New York. Ein PR-Mann namens Michael nahm ab und versprach, mich zurückzurufen. Eine Stimme, schneidend wie ein Sägeblatt. Wochen später fragte ich stotternd nach, ob mein Fax, meine E-Mail, meine Nachricht vielleicht verloren gegangen sein könnten, woraufhin er ins Telefon bellte, er würde mich zurückrufen, und das Spiel begann von vorn. Oh, it's you, sagte er, als ich wieder einmal anrief, ich habe nur abgenommen, weil ich dachte, es sei jemand anderes. Dann legte er auf. Im Dezember bekam ich drei Minuten, um mein Anliegen vorzutragen.
Eine Kleinanlegerin, die sich in den Weltmärkten verirrt hat? George macht keine Anlageberatung. Ich korrigierte mich, sagte, dass ich ausführlich mit ihm über sein Lebensthema sprechen wolle, ein großes Interview für meine Zeitung über die Reflexivität!
Vielleicht könnte George für ein europäisches Publikum über das Schicksal der Roma reden, murmelte Michael feindselig. Sehr gut, sagte ich, und notierte "Sinti & Roma" in meinem Block. Melden Sie sich Anfang Januar.
Anfang Januar hieß es, man sei mit dem Wirtschaftsforum in Davos beschäftigt, can't you see? Ich entschuldigte mich abermals.
Ein Kollege, der in den achtziger Jahren mit Cash von Soros durch den Ostblock gereist war, bot an, an meiner Stelle mit ihm zu sprechen. Über alles außer Gold. Tabu. Soros sei bekannt dafür, sehr kühl zu werden, wenn er im Privatleben um Anlagetipps gebeten wird. Gäste auf Mirador waren nie wieder Gäste auf Mirador, wenn sie zu plump dieses Thema anschnitten.
Ende Februar verlor ich erstmals die Nerven. Ich legte mich mit Michaels Assistenten Edward an, weil er sich weigerte, mir zu sagen, ob ein Treffen überhaupt realistisch sei. Ob George, der sein Leben lang für die offene Gesellschaft gekämpft hat, wusste, dass er von einer Festung umgeben war? Am selben Abend formulierte ich eine enttäuschte Mail an wen-auch-immer, über die ich, alte Regel, eine Nacht schlief.
"George ist noch auf dem Weg"
Als ich am nächsten Morgen in mein kleines Büro zurückkam, blinkte ein rotes Lichtlein an meinem Telefon. Warme Stimme. Michael. Hi, Heiki. George hätte nächste Woche fünfundvierzig Minuten, ich nehme an, Sie wollen lieber telefonieren, als extra nach New York zu kommen?
Zwei Tage später buchte ich den teuersten Flug meines Lebens. Im Flugzeug schrieb ich mir etwa zweihundert Fragen auf. In allen Fernsehinterviews, in denen ich George gesehen hatte, hatte er immer sehr präzise geantwortet, und ich wollte nicht, dass uns in unserer kostbaren Dreiviertelstunde der Gesprächsstoff ausging.
Ich würde mit ein paar sehr konkreten Fragen zu seiner Rückkehr ins aktive Fondsmanagement beginnen und dann, um ihn aufzuwärmen, etwa zehn Minuten über die Reflexivität sprechen. Ihn fragen, ob er mein Gefühl teile, dass sie auch außerhalb der Finanzmärkte wirkte, und ob ich richtig lag mit der These, dass es, wenn man den ganzen Quatsch, all die Zahlen und Nachrichten und Kursverläufe, beiseite ließ, beim Spekulieren eigentlich nur um eines ging: die Welt, so wie sie ist, nicht für bare Münze zu nehmen.
Dann würden wir über sein Leben plaudern und die Zukunft der Welt. Und ganz am Ende, wenn George die Seelenverwandtschaft zwischen uns auch spürte, würde ich das Tabu berühren. Und ihn um einen kleinen Anlagetipp bitten. Gold oder kein Gold? Das war die große Frage.
Es war ein Dienstag, als ich schließlich die Lobby eines Wolkenkratzers südlich des Central Park betrat, etwas wacklig in den Knien bei der Vorstellung, in ein paar Minuten dem Jahrhundertmann zu begegnen. Der Aufzug trug mich in eines der oberen Stockwerke, ich weiß nicht mehr welches, irgendwer anders hatte den Schalter gedrückt, und dann war ich im Himmel. Er war zweistöckig, eine Art Townhouse, und an der Rezeption saßen ein Junge und ein Mädchen, die ganz normal aussahen, vor einer Stahlwand, auf der in ausgestanzten Lettern nur ein Wort stand: Soros. Nichts weiter.
Aminah, seine Assistentin, nahm mir den Mantel ab und sah mich fürsorglich wie eine Krankenschwester an, die gleich den Puls fühlen wird. Auf dem kleinen Kaffeetisch lagen das "Wall Street Journal" und zwei Ausgaben der "Financial Times", wir lesen dieselben Zeitungen, stellte ich zufrieden fest, ein gutes Omen. Dann kam Michael, der es schaffte, mich ohne ein Lächeln zu begrüßen. Er würde am Gespräch als Aufpasser teilnehmen.
Er führte mich in ein Konferenzzimmer, dessen Fensterfront über zwei Seiten reichte, Aussicht über den Central Park, natürlich, der Million-Dollar-Blick, der um diese Jahreszeit sein Geld nicht wert war: Quadratkilometer graubraunes Gehölz. Als mein Schwindel sich gelegt hatte, fiel mir auf, dass die Möbel allesamt aus den siebziger Jahren stammten, beige Ledersessel, ein hölzerner Konferenztisch, eine Spiegelkommode mit Rauchglas. Schöne Möbel, aber alt.
Ich überlegte, ob Amerikas Milliardäre einen Wettbewerb austrugen, wer sparsamer sei. Thrift is good. Buffett lebte ja auch noch in Omaha in seinem Haus aus den fünfziger Jahren. Als wollten sie den Amerikanern sogar beim Geldausgeben ihre Überlegenheit demonstrieren, die Werte, auf die es ankommt, Bescheidenheit, Disziplin. Aminah brachte Kaffee in einem Pappbecher. "George ist noch auf dem Weg", sagte sie und ließ mich allein in meinem Wolkenzimmer. Ich betastete einen Plexiglasquader, auf dem ein rostiges Metallstück befestigt war. In den Sockel war etwas in kyrillischer Schrift eingraviert, ich entzifferte "SS-20", wahrscheinlich hatten wir St. George auch die Abrüstung zu verdanken. Ich hinterließ verschwitzte Fingerabdrücke, aber bevor ich mich fragen konnte, was ich eigentlich hier tat, hörte ich Stimmen, Schritte, Gemurmel. (...)
"Mein Jahr unter Spekulanten", Auszug 1: Der Selbstversuch "Mein Jahr unter Spekulanten", Auszug 2: "Kennst Du Leverage?" "Mein Jahr unter Spekulanten", Auszug 3:"Auch short in Banken"