Goldman-Sachs-Kolumne Der Boden ist bereitet
Im zweiten Halbjahr 2004 schrammte Deutschland an einer Rezession vorbei - und das obwohl die Weltwirtschaft gleichzeitig so schnell wuchs wie seit 30 Jahren nicht mehr. In den vergangenen 10 Jahren betrug das reale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Deutschland nur 1,3 Prozent, verglichen mit 2,3 Prozent im übrigen Euroland.
Noch auffallender ist die völlige Stagnation der realen Inlandsendnachfrage in den vergangenen fünf Jahren, der im übrigen Euroland ein durchschnittliches jährliches Wachstum von 2,0 Prozent gegenüberstand. Dabei brachen die Investitionsausgaben in Deutschland ein, und auch die Konsumausgaben der Haushalte bewegten sich auf sehr niedrigem Niveau. Dies war und ist eine unmittelbare Folge der weit reichenden Restrukturierungsmaßnahmen deutscher Unternehmen in den vergangenen Jahren.
Weltweite Faktoren können die Investitionsschwäche hierzulande zwar ein Stück weit erklären, nicht aber den massiven Rückgang der Investitionsausgaben seit 2000. Ein Faktor, der speziell Deutschland betrifft, ist der Anstieg der Kapitalkosten, mit dem die Unternehmen in den vergangenen Jahren konfrontiert wurden. Dank der Besonderheiten des deutschen Bankensystems, in dem öffentlich-rechtlichen Sparkassen und Banken eine bedeutende Rolle spielen, konnten sich deutsche Unternehmen in der Vergangenheit recht günstig Kapital beschaffen.
Strukturelle Veränderungen im Rahmen der Europäischen Währungsunion wie beispielsweise die Aufhebung staatlicher Garantien für die deutschen Landesbanken im Sommer dieses Jahres bringen ein Ende dieser impliziten Subventionierung mit sich. Durch den Anstieg der Kapitalkosten haben sich die Zahl tragfähiger Neuinvestitionsprojekte und die optimale Größe des Kapitalstocks reduziert.
Außerdem stiegen die Lohnkosten in Deutschland nach der Wiedervereinigung stark an, weshalb die Unternehmen ihre Investitionsausgaben gekürzt und Stellen abgebaut haben. Zusammen mit der Notwendigkeit, ihre Rentabilität zu erhöhen, veranlasste dies die Unternehmen in der Bundesrepublik in den vergangenen drei Jahren zu tief greifenden Restrukturierungsmaßnahmen. Unterstützt wurden sie dabei nicht zuletzt durch die von der Bundesregierung vorgenommenen Arbeitsmarktreformen. Insgesamt konnten die Lohnstückkosten im Verarbeitenden Gewerbe in vergangener Zeit deutlich gesenkt werden, so dass sie inzwischen in etwa wieder so niedrig sind wie in Frankreich.
Deutschland holt auf
Deutschland holt auf
In der Theorie hat ein Anstieg der Kapitalkosten in der Übergangsphase zu einem neuen Gleichgewicht verschiedene Wirkungen: niedrigere Investitionen, eine Erhöhung der Gewinnmargen der Unternehmen zu Lasten der Haushaltseinkommen und schwaches Verbrauchswachstum. All diese Faktoren waren in den vergangenen fünf Jahren in Deutschland zu beobachten.
Was die Steigerung ihrer Ertragskraft betrifft, haben die Unternehmen in Deutschland in den vergangenen Jahren deutliche Fortschritte gemacht, und die Rendite auf den Kapitalstock im Sektor der Nichtfinanzunternehmen ist mittlerweile mindestens ebenso hoch wie in der übrigen EU. Der Anpassungsprozess im deutschen Unternehmenssektor ist möglicherweise noch nicht ganz vorbei, geht aber auf jeden Fall seinem Ende entgegen.
Pessimisten werden vielleicht argumentieren, dass die bisherigen Anstrengungen nicht sonderlich hilfreich sein werden, weil inzwischen die Lohnkosten in Osteuropa in der erweiterten EU die maßgebliche Meßlatte sind. Und die sind immer noch deutlich niedriger als in Deutschland, was Osteuropa zu einem wesentlich attraktiveren Standort macht als die Bundesrepublik.
Dem ist folgendes entgegenzuhalten: Erstens ist das Investitionsvolumen, das die Länder Osteuropas aufnehmen können, begrenzt. Zweitens wird stärkeres Wachstum in Osteuropa - ausgelöst durch Auslandsdirektinvestitionen - auch die Nachfrage nach Gütern aus Deutschland stärken. Und drittens ist der Lohnkostenabstand zu Osteuropa deutlich geringer, wenn man auch die Produktivität berücksichtigt.
Alles in allem sieht die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands unserer Meinung nach besser aus als die Vergangenheit, und wir erwarten 2005 zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder ein positives Investitionswachstum. Es kann zwar noch etwas länger dauern, bis auch die Verbraucherausgaben wieder anspringen, aber einiges spricht dafür, dass die Haushaltseinkommen ab jetzt dem nominalen BIP-Wachstum entsprechend zunehmen werden. Dies wird den Boden für eine wesentlich deutlichere Zunahme des Verbrauchs im weiteren Verlauf dieses Jahres bereiten.
Deutschland ist zwar noch nicht völlig über den Berg; denn ernsthafte Risiken in Bezug auf seine Wettbewerbsfähigkeit gehen von der Aufwertung des Euros, den neuen EU-Mitgliedsländern und den so genannten "BRIC"-Ländern (Brasilien, Russland, Indien und China) aus. Diesen Herausforderungen müssen sich jedoch alle Euroland-Mitgliedsstaaten stellen, und die deutsche Wirtschaft ist diesen gegenüber derzeit in einer besseren Ausgangsposition als zu irgendeinem Zeitpunkt in den vergangenen zehn Jahren.