Goldman-Sachs-Kolumne Es gibt wieder mehr zu tun
Für die Beurteilung der konjunkturellen Lage sind die in der Volkswirtschaft vorhandenen Kapazitäten ein wichtiger Faktor. Damit ist zum einen eine Unterauslastung des Kapitalstocks gemeint. Zum anderen ist auch der Grad der Arbeitslosigkeit ein Indikator für die Kapazitätsreserven der Volkswirtschaft. Allerdings muss man bei der Beurteilung der Arbeitslosigkeit berücksichtigen, dass ein großer Teil letztlich struktureller Natur ist - und auch bei einem kräftigen Aufschwung nicht verschwinden würde.
Relevant ist deshalb jene Arbeitslosenquote, ab der eine Inflationsbeschleunigung eintritt. Diese so genannte inflationsstabile Arbeitslosenquote oder NAIRU (non-accelerating inflation rate of unemployment) hängt von mehreren Faktoren ab, die sich im Lauf der Zeit ändern können und werden. Da die NAIRU schwanken kann, sind Schätzungen auf der Grundlage des historischen Verhältnisses von Arbeitslosigkeit und Lohnkosten möglicherweise überholt.
Neben der NAIRU gibt es eine Reihe weiterer Faktoren, die die Lohninflation beeinflussen, beispielsweise den Produktivitätsfortschritt. Dies macht das empirische Verhältnis zwischen Beschäftigung und Inflation noch undurchsichtiger.
Eine Möglichkeit, die NAIRU zu ermitteln, besteht darin, den Trend der Arbeitslosigkeit in einem Zeitraum mit relativ stabiler Lohninflation zu betrachten. Ausgehend vom letzten Konjunkturzyklus liegt die NAIRU in Euroland anscheinend bei ca. 8,5 Prozent. Diese Schätzung basiert allerdings auf der Entwicklung der Löhne und Gehälter im letzten Zyklus und lässt seitdem eingetretene strukturelle Veränderungen am Arbeitsmarkt unberücksichtigt, durch die die NAIRU insgesamt vermutlich sank.
OECD schätzt Arbeitslosenquote auf 8 Prozent
Nach Auffassung der OECD beträgt die inflationsstabile Arbeitslosenquote in Euroland 8 Prozent, etwas weniger als die im letzten Zyklus implizierte Quote. Erst im nächsten Zyklus lässt sich feststellen, ob die Änderungen am Arbeitsmarkt einen wesentlichen Effekt hatten.
Arbeitskraftreserven bestehen aber nicht nur in Form von Arbeitslosigkeit. Beispielsweise ist das "Horten" von Arbeitskräften eine vernünftige Reaktion von Unternehmen auf die mit der Entlassung beziehungsweise Neueinstellung von Mitarbeitern verbundenen Kosten. Diese Erscheinung ist vermutlich in Volkswirtschaften wie Euroland, in denen diese Kosten hoch sind, weit verbreitet.
Wie sich die Reserven errechnen
Wie sich die Reserven errechnen
Eine Unterauslastung des Arbeitskräftepotenzials manifestiert sich in der Regel in einem zyklischen Rückgang der durchschnittlich gearbeiteten Stunden oder in einem Produktivitätsrückgang. Seit letztem Jahr veröffentlicht Eurostat vierteljährliche Zeitreihen zu den Arbeitsstunden, die im produzierenden Gewerbe in Euroland geleistet werden. Diesen Daten zufolge ging die Zahl der durchschnittlich gearbeiteten Stunden bereits 2001 - also ein ganzes Jahr vor Einsetzen des Beschäftigungsrückgangs - deutlich zurück. Im letzten Jahr hat diese Zahl dagegen wieder rasant zugenommen, während die Beschäftigungslage sehr schwach war.
Eine andere Möglichkeit, die Arbeitskraftreserven zu bestimmen, besteht darin, die Gesamtzahl der geleisteten Arbeitsstunden (Beschäftigung multipliziert mit den durchschnittlich gearbeiteten Stunden) mit dem dazugehörigen Trend zu vergleichen. Hier besteht allerdings die Schwierigkeit, zyklische und nicht zyklische Entwicklungen in Bezug auf die durchschnittlich gearbeiteten Stunden zu unterscheiden.
Die Arbeitsleistung nimmt wieder zu
Zumindest im produzierenden Gewerbe hat sich die Zahl der durchschnittlich gearbeiteten Stunden im letzten Jahr deutlich erhöht und die Gesamtzahl der gearbeiteten Stunden im zweiten Quartal wieder auf den zugrunde liegenden Trend angehoben. Obwohl die Unternehmen in Euroland in der letzten Abschwungphase anscheinend Arbeitskräfte "gehortet" haben, deutet die Zunahme der gearbeiteten Stunden auf einen Rückgang der Arbeitskraftreserven hin.
Zum Teil ist die Zunahme der gearbeiteten Stunden aber vermutlich nicht zyklisch bedingt - man denke beispielsweise an die Vereinbarungen, die Siemens und andere deutsche Unternehmen vor kurzem mit ihren Mitarbeitern getroffen haben. Demzufolge weist sie eher auf eine Erhöhung des Produktionspotenzials als auf einen Abbau der Arbeitskraftreserven hin. Die Arbeitskraftreserven liegen vermutlich irgendwo zwischen den beiden Werten, die durch die relativ hohe Arbeitslosigkeit beziehungsweise die Zunahme der insgesamt gearbeiteten Stunden impliziert werden.
EZB kann mit Zinserhöhung noch warten
Anhand weiterer Schätzungen sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass der gesamtwirtschaftliche Auslastungsgrad in Euroland im dritten Quartal um 0,5 bis 1,0 Prozent unter dem Potenzial lag. Falls die Erholung an Schwung verliert und das Wirtschaftswachstum im dritten Quartal wieder auf einen Wert sinkt, der unter dem Trend liegt - wovon inzwischen anscheinend auszugehen ist -, wird Abwärtsdruck auf die Inflation entstehen. Dies sollte der Europäischen Zentralbank einen weiteren Grund liefern, sich mit einer Erhöhung der Leitzinsen Zeit zu lassen.