Goldman-Sachs-Kolumne Eidgenossen im Kriechgang
Die Schweiz ist durch die weltweite Konjunkturflaute stärker in Mitleidenschaft gezogen worden als viele andere Länder. Mitte 2003 war das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) nicht höher als Ende 2000 und lag damit noch unter dem enttäuschenden Wachstum Deutschlands.
Im zweiten Halbjahr 2003 beschleunigte sich das BIP-Wachstum dank der weltweiten Erholung jedoch auf eine annualisierte Rate von 2 Prozent, und dieses Wachstum dürfte sich aktuellen Konjunkturindikatoren zufolge fortsetzen. Im weiteren Verlauf des Jahres werden der Aufschwung in der Euro-Zone, zu der die Schweiz intensive Wirtschaftsbeziehungen unterhält, und die lockeren geldpolitischen Rahmenbedingungen wachstumsfördernd wirken. Insgesamt erwarten wir für die Schweiz 2004 ein Wachstum von rund 2 Prozent.
Diese Wachstumsrate mag im Vergleich zu den meisten anderen Ländern niedrig erscheinen, ist aber gemessen an der wirtschaftlichen Entwicklung der Schweiz in den vergangenen Jahren recht gut. Denn das Wirtschaftswachstum der Schweiz ist nach unseren Schätzungen seit 1990 auf rund 1,25 Prozent gefallen und liegt seitdem im Durchschnitt um ein Prozent unter Euroland-Niveau und wohl auch unter dem Deutschlands.
Ungünstige demografische Entwicklung
Diese Entwicklung lässt sich größtenteils durch die ungünstige Bevölkerungsentwicklung in der Schweiz erklären. Der BIP-Beitrag des Faktors Arbeit ging von jährlich 0,7 Prozent in den 80er Jahren auf 0,2 Prozent in den 90er Jahren zurück, vor allem infolge einer langsameren Zunahme der erwerbsfähigen Bevölkerung und einer Plateaubildung bei der Erwerbsquote.
Die Zunahme der Arbeitsproduktivität in der Schweiz hat sich in den vergangenen 25 Jahren verstetigt, aber auf relativ niedrigem Niveau: In den 80er und 90er Jahren lag die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate bei einem Prozent und war damit nur knapp halb so hoch wie in Euroland und den USA.
Diese Diskrepanz ist zu einem großen Teil anscheinend nicht auf geringere Investitionsausgaben zurückzuführen. Nach unseren Schätzungen hat die so genannte Gesamtfaktorproduktivität (GFP), das heißt die nach Herausrechnen des Beitrags der Investitionstätigkeit verbleibende Arbeitsproduktivität, in den vergangenen 20 Jahren überhaupt nicht zugenommen. An diesen Trends wird sich in den nächsten zehn Jahren vermutlich nichts ändern.
SNB bereitet Markt auf Zinserhöhung vor
Keine Zunahme der Erwerbsquote
Ähnlich wie auch in Deutschland wird das Wachstum der Erwerbstätigkeit keinen Beitrag zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum leisten. Seit 1998 hat die Bevölkerung der Schweiz nur dank der Einbürgerung von Einwanderern zugenommen. Nach amtlichen Schätzungen wird die Zahl der Erwerbsfähigen in den nächsten zehn Jahren kumuliert nur um 0,2 Prozent zunehmen und danach abnehmen. Im Durchschnitt erwarten wir in den nächsten zehn Jahren von einer Zunahme der Erwerbsbevölkerung nur einen Beitrag von 0,1 Prozent zum trendmäßigen Wachstum, verglichen mit 0,2 Prozent in den vergangenen zehn Jahren.
Auch bei der Erwerbsquote, die in der Schweiz mit 87 Prozent bereits höher ist als in allen anderen OECD-Ländern, sind keine großen Zuwächse zu erwarten. In den nächsten 20 Jahren rechnen wir hier mit keinem Wachstumsbeitrag. Und auch bei der Arbeitslosenquote, die mit fünf Prozent im internationalen Vergleich niedrig ist, besteht kaum Spielraum nach unten.
Wenn nicht die durchschnittliche Arbeitszeit oder die Zuwanderung stark zunehmen - beides ist nicht wahrscheinlich - wird die Zahl der Schweizer im erwerbsfähigen Alter in den nächsten 20 Jahren überhaupt nicht zunehmen. Deshalb gehen wir davon aus, dass das trendmäßige Wachstum bei rund 1,25 Prozent verharren wird. Ohne strukturelle Veränderungen besteht wenig Potenzial für stärkeres Wachstum.
Wird der Arbeitsmarkt geöffnet?
Die Schweizer Regierung hat vor kurzem einen Plan vorgestellt, der die Öffnung des Schweizer Arbeitsmarkts für Arbeitskräfte aus den neuen EU-Ländern vorsieht. Dies dürfte zwar bei der Schweizer Volkspartei auf massiven Widerstand stoßen, könnte aber bei weiter sinkender Arbeitslosigkeit ein zunehmend akzeptabler Vorschlag werden.
Ferner hat die Schweizer Regierung vorgeschlagen, den Binnenmarkt zu liberalisieren, um die Produktivität zu steigern. Nach Schätzungen der OECD könnte das BIP der Schweiz durch Reformen im Gesundheitswesen, in der Landwirtschaft, im Telekommunikations-, Gas- und Energiesektor, bei den freien Berufen und im Bereich Transport und Verkehr in den nächsten zehn Jahren um 8 Prozent gesteigert werden. Eine Umsetzung solch breit angelegter, weitreichender Maßnahmen ist in der nahen Zukunft allerdings sehr unwahrscheinlich.
Märkte sind auf Zinserhöhung vorbereitet
Da das BIP-Wachstum gegenwärtig über dem von uns geschätzten Trend liegt, und da dies in den nächsten Quartalen vermutlich so bleiben wird, dürfte die Produktionslücke schneller geschlossen werden als in Euroland - nach unserer Schätzung Anfang 2005. Das Thema Zinserhöhungen wird somit schon bald wieder für die Schweizerische Nationalbank (SNB) aktuell werden. Zwar rechnen wir nicht damit, dass sie bereits auf ihrer nächsten Sitzung am 17. Juni Zinserhöhungen beschließen wird, glauben aber auch nicht, dass sie damit bis nächstes Jahr warten wird. Denn sie hat bereits damit begonnen, die Märkte auf höhere Zinsen "einzustimmen".
Vor kurzem sagte Vizepräsident Blattner in einem Interview, dass die SNB ihren geldpolitischen Kurs wird ändern müssen, falls sich der Aufschwung fortsetzt. Zwar wolle sie den Aufschwung nicht gefährden, aber die Zinsen müssten irgendwann erhöht werden. Wir gehen davon aus, dass sich das SNB-Ziel für den Dreimonatssatz von gegenwärtig 0,25 Prozent bis Ende 2005 auf 3 Prozent erhöhen wird.