Wall-Street-Ausblick Aufschwung - na und!
New York - An der Wall Street herrscht wiedermal verkehrte Welt. Die Volkswirte schleppen täglich neue Beweise ran, dass die Rezession vorbei ist, doch die Anleger schicken die Kurse immer weiter in den Keller. Allein der Nasdaq Composite hat seit Anfang des Jahres zwölf Prozent verloren. Die Situation erinnert an den vergangenen Herbst, nur mit anderen Vorzeichen: Damals sahen die Wirtschaftsdaten düster aus, und an der Börse ging die Post ab. Nach vier Monaten gaben die Anleger schließlich auf: Die Rallye verpuffte, als die Unternehmensberichte für das vierte Quartal veröffentlicht wurden.
Seither sind die Anleger in eine tiefe Depression verfallen. Enronitis ist eine Ursache, aber mehr noch scheint es pure Lustlosigkeit zu sein. Null Bock auf Aktien. Ist ja eh nichts zu holen. Und es scheint, dass nichts die Anleger im Moment aufheitern kann. Die Ökonomen fahren diese Woche allerdings schwere Geschütze auf. Am Mittwoch werden sie jubelnd vermelden, dass die Auftragseingänge im Januar schon wieder zugelegt haben. Am Donnerstag wird herauskommen, dass die Wirtschaft im vierten Quartal nicht nur um 0,2 Prozent, sondern um ein halbes bis ein Prozent gewachsen ist. Am Freitag wird der Einkaufsmanager-Index voraussichtlich zum ersten Mal seit Juli 2000 über 50 Prozent liegen. Ein Wert über 50 bedeutet, dass die Wirtschaft expandiert.
Bereits vergangenen Donnerstag hatten 60 Prozent der Ökonomen der National Association for Business Economics (NABE) die Rezession für beendet erklärt. Und nicht nur das: Ein "herzhafter" Aufschwung stehe bevor. Die Anleger zeigten sich wenig beeindruckt. Vielleicht fanden sie einfach die Wortwahl blöd. Der Dow Jones ging jedenfalls erstmal auf Tauchfahrt. Börsianer gehen davon aus, dass sich die Stimmung bis zur Veröffentlichung der nächsten Quartalszahlen nicht ändern wird.
Der Höhepunkt dieser Woche wird Alan Greenspans Auftritt am Mittwoch vor dem Finanzausschuss des Repräsentantenhauses. Der Notenbankchef gibt seinen halbjährlichen Konjunktur-Ausblick. Die Abgeordneten werden ihn mit Fragen drängen, die Rezession für beendet zu erklären. Beobachter erwarten, dass Greenspan sich vorsichtig optimistisch zeigt - wie immer. Die Euphorie seiner Volkswirt-Kollegen ist bei dem 76-Jährigen schwer vorstellbar.
Bisher hat Greenspan es eher mit den amerikanischen Unternehmenschefs gehalten. Die malen seit Monaten schwarz. Gewinne sind nicht in Sicht - und werden wohl auch noch auf sich warten lassen. "Schon in normalen Zeiten dauert es Jahre, bis Gewinne auf das Niveau vor einer Rezession zurückkehren", sagt David Wyss, Chef-Volkswirt von Standard and Poors. "Der starke Dollar macht es wahrscheinlich, dass es dieses Mal noch ein bisschen länger dauern wird als sonst".
Ein weiterer Faktor drückt die Gewinne: Die Löhne steigen schneller als die Preise. Um ihre Gewinne aufzubessern, kommen Unternehmen um weitere Entlassungen nicht herum, prophezeit Richard Bernstein, Top-Stratege von Merrill Lynch. Die Arbeitslosenrate, die laut Vorhersagen im Sommer mit 6,5 Prozent ihren Höhepunkt erreichen soll, werde noch weit darüberhinaus schießen, sagte Bernstein dem "Wall Street Journal Online".
Für zunehmende Unsicherheit sorgt auch die Verschuldung der US-Unternehmen. Insgesamt sitzen sie auf einem Schuldenberg von fünf Billionen Dollar, angehäuft in den goldenen Jahren der Expansion. Jetzt werden sie reihenweise von den Rating-Agenturen runtergestuft. Tyco, Computer Associates, Qwest, Sprint - sie alle sind seit dem Downgrade ihrer Bonität vom Markt der kurzfristigen Anleihen ausgesperrt. "Viele Unternehmen haben Probleme, Kapital zu bekommen", bestätigt John Puchalla von der Rating-Agentur Moody's.
Downgrades führen oft zu Liquiditätsproblemen - bis hin zum Bankrott. In den knapp zwei Monaten des neuen Jahres haben bereits 47 Firmen den Bankrott erklärt. Wenn es in dem Tempo weiter geht, wird 2002 einen neuen Rekord setzen. Bisheriger Rekord waren die 211 Bankrotterklärungen des vergangenen Jahres. Jede weitere Bankrott-Nachricht aber bestärkt die Anleger in ihrer Aktienmüdigkeit. So erscheint das Szenario, das ausgewiesene Pessimisten wie Bernstein zeichnen, nicht abwegig. Er hält ein drittes Bären-Jahr in Folge für möglich. "Die Börse hat eine starke, schnelle Erholung der Unternehmensgewinne eingepreist", sagt er. "Es gibt daher jede Menge Raum für Enttäuschungen".
So viel Logik kann sich auch Paul Krugman nicht entziehen. Der Wirtschaftsprofessor und "New York Times"-Kolumnist erklärte vergangene Woche, wo seine Sympathien liegen: "Ich persönlich finde die Pessimisten überzeugender als die Optimisten".