Wall-Street-Ausblick Zeit zum Danke-Sagen
New York - Dieser Donnerstag ist der vierte Donnerstag im November, in den USA auch bekannt als "Thanksgiving". Mit dem Erntedankfest beginnt die Feiertagssaison, in der an der Wall Street traditionell weniger gehandelt wird. Die Börse ist am Feiertag geschlossen, viele Börsianer werden zusätzlich Mittwoch und Freitag frei nehmen.
Es ist eine dieser Wochen, die ohne Erwartungen beginnen. Zwar verkünden etliche US-Firmen Quartalszahlen, aber darunter sind keine "Market Mover". Nicht einmal der Start des Harry-Potter-Films setzt Fantasien frei: Er sei schon in die AOL-TimeWarner-Aktie eingepreist, sagt Douglas Mitchelson von Deutsche Banc Alex Brown. Wahrscheinlich das einzige, was für Aufregung sorgen könnte, wäre die Festnahme Osama Bin Ladens. Wie am Wochenende bekannt wurde, jagen ihn die US-Spezialeinheiten jetzt auf Pferden.
Die einzigen relevanten Wirtschaftsdaten diese Woche werden am Mittwoch veröffentlicht, wenn die University of Michigan ihren Bericht zum US-Verbrauchervertrauen abliefert. Die niedrigen Ölpreise, die Tanken und Heizen im Moment spottbillig machen, dürften die Stimmung der Amerikaner etwas gehoben haben. Insgesamt bleibt die Unsicherheit auch nach den scheinbaren Militärerfolgen in Afghanistan jedoch hoch.
"Der Handel wird diese Woche sehr ruhig sein", prophezeit Iwan Juwana, Analyst bei Glenrock Associates. Statt die Kurse weiter in die Höhe zu treiben, werden die Anleger sich zurückhalten. So mancher wird sich über die satten Gewinne der vergangenen Wochen freuen. Seit dem 21. September hat der Dow Jones knapp 20 Prozent zugelegt, der Technologie-Index Nasdaq Composite gar 33 Prozent.
Auf der anderen Seite könnte das lange Thanksgiving-Wochenende, traditionell eine Zeit der Rückschau und Besinnung, auch Zweifel an der Rallye wachrufen. Insbesondere die Kursexplosion der Technologie-Aktien scheint zu gut, um zu wahr sein. Richard Bernstein, Chef-Stratege von Merrill Lynch, zeigte sich vor einigen Tagen bereits besorgt: "Sind wir schon wieder verrückt geworden?"
Die ersten Stimmen mahnen, dass es sich um eine Wiederholung der Reaktion auf die Frühjahrsrallye handeln könnte. Im Mai waren die Kurse nach zwei Monaten Hausse auf neue Tiefs gefallen. Auch jetzt könnten die ersten Anleger entscheiden, ihre Gewinne zu realisieren, und verkaufen. Der Markt werde sich daher in den nächsten Wochen wahrscheinlich nicht in eine klare Richtung entwickeln, sagt Juwana. "Seitwärts" heißt das im Wall-Street-Jargon.
Juwana glaubt, dass es sich bei der Rallye um einen klassischen "Dead Cat Bounce" handelt: Eine temporäre Erholung, nach der es wieder in Richtung Boden geht. Das Revival der Tech-Aktien hält er für verfrüht. "Die Leute denken, dass manche Tech-Firmen nach den Kurseinbrüchen von 80 Prozent unterbewertet sein müssen", sagt er. "Das überzeugt mich noch nicht".
John Moore, Analyst bei der Rating-Agentur Moodys, hingegen weist darauf hin, dass entgegen dem öffentlichen Image einige Tech-Firmen sehr solide Finanzen hätten. Er sieht die Zukunft des Tech-Sektors daher positiv. Zwar will er sich zu Aktienkursen nicht äußern - das tut Moodys nicht -, aber an ihrer Kostenstruktur gemessen seien etliche Firmen sehr attraktiv. So hätten Oracle, Sun und Microsoft Cash-Reserven in Milliardenhöhe - mehr als genug, um einige gewinnschwache Monate zu überstehen. O-Ton Moore: "Es gibt im Moment echte Werte da draußen."
Carsten Volkery, New York