Die Metzler-Kolumne Jenseits des Stimmungstiefs
Frankfurt - In Anbetracht der inzwischen vorherrschenden Meinung halten wir es nicht (mehr) für ratsam, bei der Aktienauswahl nur auf defensive Titel zu setzen. Entsprechend haben wir in unserer Aktienstrategie defensive Sektoren wie Versorger, Pharma oder Einzelhandel untergewichtet. Stattdessen setzen wir wieder stärker auf Sektoren und Werte, deren Kurse in den vergangenen Monaten stark gelitten haben und die dem Wachstumssegment zugerechnet werden können.
Auch wenn gegenwärtig der Eindruck vorherrscht, es hätte sie nie gegeben: Die "Neue Ökonomie" und ihre Wachstumskräfte sind nicht tot! Sie werden in der Krise, die sie gegenwärtig durchlaufen, nur zu normalen Elementen wirtschaftlicher Zyklen und Strukturen. Ihre damit einhergehende Entmystifizierung halten wir nicht für bedrohlich, sondern vielmehr für gesund.
Angst vor einer weltweiten Rezession
Die Stimmung an den Börsen und in der Wirtschaft befindet sich auf einem Tiefpunkt. Die schlechte Verfassung der Aktienmärkte drückt sich in schwacher Performance, armseligen Börsenumsätzen und einem quasi zum Erliegen gekommenen Neuemissionsgeschäft aus. Kaum ein Investor findet gegenwärtig den Mut, sich gegen die vorherrschende Stimmung zu stellen und größere Engagements einzugehen. Es grassiert die Angst vor einer weltweiten Rezession. Überall werden die Wachstumsprognosen zurechtgestutzt.
Noch vor nicht allzu vielen Monaten hielt es eine Mehrheit von Auguren für angemessen, mit Hilfe von Buchstabierübungen einen schnellen Wirtschaftsaufschwung in der zweiten Hälfte des laufenden Jahres vorherzusehen. Nachdem sich die Alphabetkünstler mittlerweile an ihrer Buchstabensuppe mit vielen Vs und Ws und Ls verschluckt haben, will den Rest jetzt offenbar niemand mehr auslöffeln. Stattdessen versteckt sich eine wachsende Mehrheit verschreckter Prognostiker wieder einmal hinter der vorherrschenden Meinung. Diese besagt inzwischen nicht viel mehr, als dass man auf der Hut sein müsse vor der Gefahr einer globalen Rezession.
Jeder Skeptiker galt als Feigling
Was wir derzeit erleben, ist zweierlei: zum einen die Kehrseite der Situation vor etwa eineinhalb Jahren. Euphorisiert von den Verheißungen der neuen Web-Economy schien sich damals fast jeder sicher, dass es nur noch in eine Richtung gehen konnte: nämlich aufwärts. Dauerhaftes Wachstum ohne Reue (sprich: ohne Inflation) schien auf der Grundlage globalisierter Märkte und des neuen ökonomischen Musters der New Economy sicher.
Jeder, der skeptisch war und nicht mitmachte, musste sich gefallen lassen, als kurzsichtiger Feigling oder ewiggestriger Sturkopf bezeichnet zu werden. Jeder, der nicht dem Wachstumsgötzen huldigte, wurde verlacht, Portfoliomanager, die in "Value-Aktien" statt in "Growth-Storys" investierten, gefeuert.
Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung
Heute kennt man wiederum nur eine Richtung: diesmal abwärts. Aktienanlagen werden nur noch in defensiven Werten der Old Economy getätigt. Alles macht in Moll. Dunkelgrau ist die vorherrschende Farbe in den mittlerweile überall herumgereichten ökonomischen Szenarien. Was wir damit erleben, ist erneut eine Situation, die zunehmend den Charakter einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung widerspiegelt.
Dies bleibt nicht ohne Auswirkung auf die reale Wirtschaft. Investitionsgüterhersteller halten in Erwartung sinkender Zinsen und nachlassender Aufträge eigene Investitionen zurück, und die Industrieproduktion sinkt. Anleger warten mit ihren Investments ebenfalls, bis die Zinsen noch weiter fallen und die Wertpapiermärkte wieder eindeutige Erholungszeichen zeigen.
Japan gleicht einer komatösen Wirtschaft
Die ökonomischen Fakten sehen derzeit in der Tat alles andere als erfreulich aus. Die US-Wirtschaft - im vergangenen Jahr noch mit fünf Prozent gewachsen - dürfte nur mit viel Glück dieses Jahr die Zwei-Prozent-Marke erreichen. Ähnliches gilt für Europa, das nach 3,5 Prozent Wachstum im Jahr 2000 ebenfalls nur mit großer Mühe die Zwei-Prozent-Hürde im laufenden Jahr schaffen dürfte.
Das deutsche Wirtschaftswachstum dürfte damit nur knapp über einem Prozent liegen. Der immer noch schwache Euro erschwert darüber hinaus der Europäischen Zentralbank ihre stabilitätspolitische Aufgabe.
Das Gespenst der Stagflation geht um
Für Japan, das sich immer noch in der selbstverschuldeten Starre einer komatösen Wirtschaft befindet, wäre ein schwarze Null schon ein Erfolg. Nachlaufende Preiseffekte einer sehr schnell abgekühlten Konjunktur sowie - vor allem in Europa - vorrübergehend preistreibende Faktoren haben zudem Inflationsängste geschürt.
Das Gespenst der Stagflation treibt deshalb diejenigen um, die nicht schon mit ihrer Angst vor einer Rezession beschäftigt sind. Wie das Kaninchen vor der Schlange erstarren die Aktienmärkte und quälen sich von einer Gewinnwarnung zur nächsten. Dass dabei manchmal der Eindruck eines fast irrationalen Pessimismus entsteht, erscheint nur als die logische Konsequenz der vorangegangenen, fast grenzenlosen Wachstumserwartungen.
Erholung in Sicht
Aber es scheint uns an der Zeit, nach nun mehr als 14 Baisse-Monaten an den Aktienmärkten, die Frage zu stellen, welche Faktoren für eine Erholung sprechen könnten. Aus unserer Sicht gibt es solche inzwischen nämlich durchaus:
1.) Die schnelle Abfolge von Zinssenkungen der Fed seit Anfang des Jahres dürfte nicht nur Liquidität in die Wertpapiermärkte gepumpt haben, sondern auch im Verlauf dieses Jahres realwirtschaftlich positive Impulse auslösen.
2.) Die normalisierte, wieder steilere Zinsstrukturkurve in den USA auf insgesamt niedrigerem Niveau als vor Jahresfrist spricht für eine Erholung der US-Wirtschaft im nächsten Jahr.
3.) Das Abflauen der Inflationsfurcht, besonders in Europa, dürfte es auch der Europäischen Zentralbank erleichtern, aus ihrem Dilemma herauszufinden und Zinssenkungen nicht nur zu erwägen, sondern auch zu realisieren.
4.) Der Höhepunkt der Gewinnwarnungen ist aus unserer Sicht bald überschritten. Insbesondere dürfte die Vielzahl und Heftigkeit von Gewinnwarnungen in der vergangenen Zeit zunehmend einen Gewöhnungseffekt hervorrufen. Mit anderen Worten, das negative Überraschungsmoment wird geringer. Zunehmend dürfte sich das Augenmerk dann wieder auf die Frage richten, wann das zyklische Tief überwunden sein wird.
5.) Eine globale Rezession halten wir für unwahrscheinlich. Aus unserer Sicht ist der Konjunkturabschwung der vergangenen zwölf Monate ein durchaus zyklisches Phänomen, das nicht in eine Rezession führen wird, solange keine (neuen) strukturellen Belastungsfaktoren hinzukommen.
6.) Neue strukturelle Belastungsfaktoren oder Defizite, die uns in eine akute Strukturkrise führen könnten, sehen wir derzeit aber nicht. Richtig ist zwar, dass gerade in Europa Strukturdefizite bisher nur halbherzig durch Reformen angegangen worden sind, jedoch haben sich hier keine Verschlechterungen ergeben, sondern - wenn auch bisher nur kleine - Verbesserungen, wie zum Beispiel die Steuerreform.
Fundament für einen Stimmungsumschwung
Wie so oft, wenn der Herdentrieb das Geschehen bestimmt, sollte es lohnen, sich daran zu erinnern, dass es dort, wo alle sich drängeln, bald ungemütlich werden könnte. Mit anderen Worten: Nun, da die vorherrschende Meinung auf ein Untergangsszenario eingeschwenkt ist, dürfte die Wahrscheinlichkeit, dass dieses eintritt, gering sein.
In diesem Sinne halten wir das akute Stimmungstief letztlich für ein hoffnungsvolles Zeichen, weil es das Fundament legt für einen Stimmungsumschwung an den Aktienmärkten. Bei den ersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung und im Zuge sinkender Zinsen dürften sich die Kurse von Aktien wie der Deutschen Telekom, SAP, Singulus, Qiagen oder Software AG überdurchschnittlich stark erholen.
Johannes J. Reich, Head of Metzler Equity Research