Stadtplanung von Google, Siemens, Toyota, Ikea Wie Konzerne den Städtebau übernehmen

Vision von Sidewalk Labs für Toronto im Jahr 2050
Foto: Picture Plane for Heatherwick Studio for Sidewalk LabsWer die Präsentationen von Sidewalk Labs sieht, erwartet eine freundliche Zukunft am Seeufer in Toronto. Beheizbare Wege sollen das Radeln auch im kanadischen Winter erlauben, Müllschlucker die Abfuhr auf den Straßen ersetzen und den Abfall auch gleich automatisch sortieren. Die Ampeln erfahren durch Sensoren, wenn sich Fußgänger nähern, und schalten für sie auf Grün. Erdgeschossläden in hölzernen Bauten dienen tags als Kita, nachmittags als Yogastudio und abends als Bar. Kurzum - alles ziemlich smart.
"Wie würde eine Stadt aussehen, wenn man sie in der Internet-Ära von Grund auf neu baute? Wenn man sie vom Internet aus baute?" So erklärt Sidewalk-Labs-Chef Dan Doctoroff das Motiv der Firma, die zum Google-Konzern Alphabet (Kurswerte anzeigen) gehört. Mit Konzerngründer Larry Page teile Doctoroff - selbst früher Behördenleiter der Stadt New York und dann Chef des Finanzinformationsdienstes Bloomberg - die Vision von einer "Revolution des urbanen Lebens" dank neuer Technik. Die Firma hat sogar Software entwickelt, um die Stadtplanung selbst zu automatisieren.
Im März will die Stadt Toronto endgültig entscheiden, ob sie dieser Vision Raum auf ihren kostbaren Seegrundstücken einräumt. Die Ambition ist größer als Marketingwelten, wie sie Volkswagen mit der "Autostadt" in Wolfsburg aufgebaut hat. Sie übertrifft auch das Ringen zwischen Metropolen und Tech-Konzernen um die Mobilität der Zukunft. Es geht darum, dass Konzerne den Städtebau selbst in die Hand nehmen, nach ihren eigenen Regeln und Vorstellungen vom Zusammenleben.
Alphabet: Die "Schlacht um den Überwachungskapitalismus" in Toronto

Das ehemalige Hafengebiet von Toronto heute
Foto: DroneBoy for Sidewalk LabsWenn Sidewalk Labs sein Paradeprojekt bekommt, dann wird es zumindest deutlich kleiner als gewünscht. Die Stadtentwicklungsgesellschaft Waterfront Toronto hat im vergangenen Oktober klargestellt, dass die Zusammenarbeit mit der Google-Schwester sich auf eine Fläche namens Quayside von fünf Hektar beschränkt, nicht die von den Konzernplanern illustrierten Ideen für 70 Hektar oder mehr; der Platz reicht nicht einmal für die erhoffte neue Kanada-Zentrale von Google.
Auch musste Sidewalk Labs klarstellen, dass die von all den Smart-City-Sensoren erfassten Daten ein öffentliches Gut seien und keinesfalls vermarktet oder auch nur mit Google geteilt werden dürften. Von "digitaler Zurückhaltung" ist in den neuen Dokumenten die Rede. Technologie solle nur eingesetzt werden, wo sie den sozialpolitischen Zielen der Stadt helfe, nie als Selbstzweck.
Waterfront Toronto betont trotzdem, dass "noch nichts beschlossen" sei. Einer Umfrage zufolge stünden die Bürger dem Projekt "bedingt empfänglich" bis "argwöhnisch" gegenüber - und das zwei Jahre nach einem euphorischen Start, als der damalige Alphabet-Chairman Eric Schmidt und Kanadas Premierminister Justin Trudeau gemeinsam vor die Presse traten.
"Für Google besteht das nächste Ziel in der Privatisierung ganzer Städte unter dem wachsamen Auge seiner vernetzten Sensoren", behauptet der Ökonom Jeremy Rifkin in seinem neuen Buch und zitiert Eric Schmidt: Für das Unternehmen erfülle sich ein langgehegter Traum, dass "uns jemand eine Stadt gibt und deren Leitung überträgt". Noch mehr Schaden richtete wohl Trudeau selbst an, der erzählte, er persönlich habe schon lange mit Schmidt alles ausgehandelt und das Smart-City-Modell solle einmal ganz Toronto und später die ganze Welt verändern.
Die Sidewalk-Labs-Macher begründeten ihren Anspruch auf große Flächen, auf eine eigene Datenfirma oder auch auf Milliarden aus der städtischen Grundsteuer mit ihrem Investitionsaufwand: Die neue digitale Infrastruktur könne sich nur ab einer bestimmten Größe lohnen. So nährten sie die Opposition, die mehrere Rücktritte rund um Waterfront Toronto bewirkte und über die Stadtgrenzen hinausreicht. Harvard-Sozialökonomin Shoshana Zuboff zufolge wird "in Toronto die Schlacht um den Überwachungskapitalismus geschlagen", dies sei "eine Geschichte von privatem Kapital, das demokratische Institutionen verdrängt".
Die Ironie der Geschichte ist, dass Dan Doctoroff diese Konflikte von Anfang an bedachte. Städte seien komplexe und unberechenbare Gebilde. Tech-Szene und Stadtplaner sprächen zwei verschiedene Sprachen. Sidewalk Labs trete an, um diesen Gegensatz zu überwinden und das "geduldige" private Kapital von Alphabet in den öffentlichen Dienst zu stellen.
Siemens: Berliner Freiraum wie in der Kaiserzeit

Siemens-Vorstand Cedrik Neike präsentiert den Entwurf für die Siemensstadt 2.0
Foto: Britta Pedersen/ dpaInvestorenfreundlicher als die kanadische Tech-Metropole gibt sich bislang Berlin. "Das bereichert die ganze Stadt", schwärmte Bürgermeister Michael Müller, als er in der vergangenen Woche den Siegerentwurf des Architektenwettbewerbs für die "Siemensstadt 2.0" zu sehen bekam. Für das auch schon als "deutsches Silicon Valley" gerühmte Projekt will die Stadt eine bis 2025 reaktivierte Bahnlinie spendieren und allerlei Auflagen von Denkmalschutz bis zur digitalen Infrastruktur lockern.
Nach dem Willen von Siemens-Vorstand Cedric Neike entsteht ein "Ökosystem, wo wir Arbeiten, Forschen, Wohnen und Lernen auf einem Areal vereinen". Verschiedene Forschungsinstitute und Firmen sollen den 70 Hektar großen Raum nutzen - also eine Fläche, von der Alphabet in Toronto nur träumt. Siemens zählt eine Reihe von Zukunftstechniken auf, die vor Ort produziert und auch erprobt werden sollen: dezentrale Energiesysteme, Elektromobilität, Industrie 4.0, 3D-Druck, Internet der Dinge, künstliche Intelligenz, Datenanalyse. Sogar die Blockchain kommt vor.
Für den Konzern ist es auch ein Raum, sich selbst mit Fokus auf die Vorzeigesparte "digital factory" neu zu erfinden - nachdem die Medizintechnik und das Energiegeschäft abgespalten werden. Das historische Erbe des Konzerns hilft zugleich, im Vergleich zu Toronto günstige Ausgangsbedingungen zu schaffen: Die "Siemensstadt 2.0" entsteht auf historischem Siemens-Grund, der über 100 Jahre alten Siemensstadt. Zur Kaiserzeit gab es derartige Freiräume für Konzerne schon einmal, bevor die Stadtverwaltungen die Planungshoheit übernahmen.

Die Werkssiedlung beherbergte einst bis zu 15.000 Einwohner und ein Vielfaches an Industriejobs. Heute schafft der Leerstand viel Platz für neue Fantasie - und er wächst noch: Erst im vergangenen Jahr machte der US-Investor Infinera ein früheres Siemens-Werk für optische Netze in der Siemensstadt dicht.
Toyota: Die "verwobene Stadt" am Fuji

Drei Beispiele sind schon ein Trend. Toyota zeigte Anfang Januar, dass es sich mit seiner Existenz als führender Autohersteller ebenfalls nicht begnügt. In einem theatralischen Auftritt auf der Consumer Electronics Show in Las Vegas präsentierte Konzernpatriarch Akio Toyoda seinen Traum von einer "Woven City" am Fuß des Fuji-Vulkans.
Ein "lebendiges Labor" ist auch hier geplant. Toyota verschreibt sich dem "Streben nach einer immer besseren Art zu Leben und der Mobilität für alle". Die 70 Hektar große Siedlung solle die Gemeinschaft verschiedener Generationen zusammenbringen, vernetzt natürlich auch durch etliche Sensoren und künstliche Intelligenz, um unter anderem die neueste Smart-Home-Technik zu erproben.
Bedenken um den Datenschutz scheint Toyota nicht zu fürchten. Als Pioniere für die Siedlung will der Konzern Forscher, eigene Beschäftigte und Pensionäre gewinnen. Das Gelände ist schon sicher: Dort steht bislang eine Autofabrik, die in diesem Jahr geschlossen werden soll.
Facebook: Erstaunlich profane Pläne im Silicon Valley

Illustration des geplanten Facebook-Campus Willow Village
Foto: Peninsula Innovation Partners/Menlo ParkVergleichbar bescheiden wirken die Milliardenprojekte, mit denen Alphabet, Facebook und Co. in ihrer Heimat im Silicon Valley wirken. Das Motiv ist ganz pragmatisch: Sie müssen etwas gegen die grassierende Wohnungsnot unternehmen, die sie selbst mit ihrem Job-Boom verursacht haben. Daher wird in den Plänen für Facebooks "Willow Village" in Menlo Park oder Alphabets "North Bayshore Project" in Mountain View das "bezahlbare Wohnen" betont - zumindest für einen Teil der tausenden neuer Wohnungen.
Als Smart Cities, als Anwendungsort für technische Innovationen, werden die Siedlungsprojekte interessanterweise nicht beworben. Verglichen mit den vorgenannten Beispielen, ist die Fantasie der Tech-Riesen für die Nachbarschaft ihrer Konzernzentralen geradezu konventionell.
Dennoch: Auch hier gehen die Konzerne unter die urbanen Gestalter. Im Silicon Valley, das trotz seiner Bedeutung als globales wirtschaftliches Machtzentrum noch immer aus Einfamilienhaus-Siedlungen besteht, wird verdichtet und auch einmal ein paar Etagen höher gebaut. Die Renderings zeigen Straßenszenen voller Fußgänger. Facebook will mit Willow Village "die Gemeinschaft stärken", Alphabet verschreibt sich der "complete neighborhood", in der die Bedürfnisse aller Bewohner und Beschäftigten berücksichtigt werden.
Ikea: Bezahlbarer Luxus im Londoner Osten

Baustelle der Sugar House Island im April 2019
Foto: Sugar House IslandFast fertig ist ein ähnliches Projekt, das vor einem knappen Jahrzehnt für Aufsehen sorgte: ein von Ikea gebauter neuer Stadtteil im hippen Osten Londons, am Rand des Olympiageländes von 2012. Auf zehn Hektar entsteht die "Sugar House Island", die ersten 140 von 1200 Wohnungen sollen im Frühjahr vermietet werden.
Ikea als Städtebauer regte zu Beginn der Pläne die Fantasie an: Wie sähen Häuser aus, die außen wie innen von Ikea eingerichtet sind? Doch strenggenommen baut hier nicht Ikea selbst, sondern eine Immobilienfirma namens Vastint, die auf ihrer Homepage betont, "dass der Betrieb von Vastint nicht mit den Ikea-Geschäften verbunden ist". Es gebe nur einen gemeinsamen Eigentümer, nämlich die Interogo- Stiftung in Liechtenstein, die von der Kamprad-Familie kontrolliert wird.
Ist es also nur ein profanes Immobilien-Investment der schwedisch-schweizerischen Milliardäre? Ein bisschen Ikea-Geist ist auf Sugar House Island doch zu spüren: mit standardisierten und praktischen Häusern, trotzdem in freundlichem Design. Im überteuerten London soll das neue Viertel Zuflucht für die Mittelschicht bieten, dank geteilter Kosten trotzdem mit Alltagsluxus wie einem Concierge-Dienst oder Paketannahmestellen.
Posco: Koreas Überwachungsstadt ist schon in Betrieb

Überwachungszentrale von Songdo (bei Staatsbesuch der belgischen Königin Mathilde im März 2019)
Foto: imago images / BelgaWer wissen will, wie so eine von Grund auf neue Smart City in der Praxis funktioniert, fährt am besten nach Südkorea. Die 2001 begonnene Planstadt Songdo auf einer künstlichen Insel nahe dem Flughafen Incheon hat inzwischen rund die Hälfte der angepeilten 300.000 Einwohner erreicht.
In vielen Berichten kommt das automatische Mülltrennungssystem vor, wie es auch Alphabet in Toronto plant, ebenso wie die allgegenwärtigen Überwachungskameras - oder die menschliche Leere auf den weiten Straßen.
Weniger bekannt ist, dass auch hinter Songdo ein Konzern steht: das vor allem als Stahlhersteller bekannte, aber auch im Baugeschäft aktive Konglomerat Posco. Formell gehörte die Mehrheit der Anteile bis vor zwei Jahren dem US-Immobilienentwickler Gale International, doch der fühlt sich jetzt ausgebootet und verklagt die Koreaner vor einem Schiedsgericht auf zwei Milliarden Dollar Schadenersatz.
Der Streit rührt aus jahrelangen Verzögerungen des Städtebaus. Eigentlich hätte Songdo schon 2015 fertig werden sollen. Internationale Firmen wurden von dem futuristischen Ambiente und den Steuerrabatten der Sonderwirtschaftszone nicht so angelockt wie erhofft. Ohne Multi-Milliarden-Investitionen des staatlichen Konjunkturprogramms gegen die Wirtschaftskrise von 2009 wäre Songdo wohl vollends gefloppt. Die hohen Leerstände brachten die Songdo-Entwicklungsgesellschaft in die Insolvenz. In einer Umschuldung übernahm Posco die Anteile der Amerikaner.