Zeitungen im Web Die Mauer zwischen Print und Online fällt
New York - Die Revolution beginnt auf dem Lande. Genauer gesagt: beim "Bakersfield Californian" , einer kleinen Kommunalzeitung in Bakersfield, zwei Autostunden nördlich von Los Angeles. Die Zeitung sieht kaum anders aus als andere Lokalblätter: Da geht's um die Benennung des Football-Stadiums, eine kontroverse Klinik und einen Krebskranken, der alle Negativprognosen geschlagen hat.
Doch hinter diesen Schlagzeilen steckt eine der fortschrittlichsten Zeitungen der USA. Dem "Californian" gelingt, woran sich die meisten, krisengeschüttelten Blätter bisher noch die Zähne ausbeißen: Er umarmt die Online-Konkurrenz, die Blogger, die Leser - ohne Hemmungen, und ohne Ansprüche aufzugeben. "Wir wollen ein multimediales Unternehmen werden", sagt Verleger Richard Beene, "und dabei weiter guten Journalismus machen."
Während andere US-Printmedien die kreative Energie des Internets lange nicht ernst genommen haben, sahen die Blattmacher des "Californian" deren Wert für ihren bald hundertjährigen Familienbetrieb schon im Mai 2004. Da richteten sie, neben der regulären Online-Präsenz, die Website "Northwest Voice" ein, auf der Leser seither ihre eigenen Ideen, Storys und Fotos publizieren können. Die besten werden allwöchentlich in einer Gratis-Ausgabe nachgedruckt, die an 24.000 Haushalte geht. Top-Story dieser Woche: die Urlaubsfotos der Robinsons von den Bahamas.
"Teilnehmen oder ausgesperrt"
Im Januar kam eine Kleinanzeigen-Site nach Vorbild von Craigslist.org hinzu, jener Internet-Börse, die den großen Verlagen immer mehr die Anzeigenumsätze klaut. Beide Online-Projekte, von einer AOL-Veteranin betreut, waren Instant-Renner. Das kam wiederum der Print-Ausgabe zu Gute, die sich jetzt als eines von wenigen US-Blättern über nennenswerten Auflagenschub freuen konnte und einen Relaunch plant. Das Ziel, so Verleger Beene: eine "Multi-Plattform-Zeitung" der Zukunft - "ganz anders als eine traditionelle Zeitung".
Der kleine "Californian" praktiziert, was den Großredaktionen in den US-Medienzentren oft noch ein Gräuel ist: die Symbiose von Online- und Printjournalismus. "Teils Revolution, teils Evolution", nennt der "Online Journalism Review" diese Entwicklung - es gebe ja keinen anderen Ausweg: "Angesichts der Online-Konkurrenz um die über 185 Millionen Internet-Nutzer Amerikas müssen Zeitungs-Websites alles in ihrer Macht stehende tun, um Lesern das Gefühl zu geben, ihre Bedürfnisse zählen."
Bisher konnten sich die Verlage dazu kaum durchringen. Doch spätestens mit dem Schock vom Frühsommer, als die US-Tageszeitungen die höchsten Auflageneinbußen seit 1995 verbuchten, kommt Bewegung in die Branche. "Entweder wir nehmen an dem Dialog teil", sagt Ken Sands, Online-Chef des "Spokesman-Reviews" im Bundesstaat Washington, über das (noch) ungemütliche Verhältnis von virtueller und papierner Zeitung, "oder wir werden von dem Dialog ausgesperrt."
Nicht nur die virtuelle Kopie des Papiers
Nicht nur die virtuelle Kopie des Papiers
Studien bestätigen den Ernst der Lage. Die große Mehrheit der Amerikaner zwischen 18 und 34 Jahren bezieht Informationen demnach heute lieber via Web als per Zeitung. Das Werbegeld hetzt diesem Trend natürlich sofort hinterher: "Anzeigen folgen Augen", sagt Lauren Rich Fin, Medienanalystin bei Merrill Lynch, dazu: Online-Webeeinnahmen steigen dramatisch, Print-Werbung verkümmert. "Ein Wachruf für die Industrie", sagt Merrill Brown, der Gründungschefredakteur von MSNBC.com .
Sprich: Die "Dinosaurier", wie der "American Journalism Review" die Tageszeitungen nennt, müssen sich anpassen - oder aussterben. "Widerstand ist zwecklos", sagt Barbara Cohen, Präsidentin der Consulting-Gruppe Kannon.
Die "New York Times" ist die erste der Etablierten, die den Wandel wagt, wenn auch nicht so radikal, wie die Kollegen an der Westküste: Bis zum Frühjahr 2007 werden die Print- und Online-Redaktionen nahtlos verschmolzen, in einem "Newsroom" in der neuen Zentrale am Times Square. "Wir planen", kündigten Chefredakteur Bill Keller und Online-Kollege Martin Nisenholtz kürzlich an, "den Unterschied zwischen Zeitungsjournalisten und Webjournalisten zu verringern und schließlich ganz zu eliminieren."
Der Damm ist gebrochen. Nicht nur für die "Gray Lady", deren Edelfedern lange nur mit Misstrauen auf die Online-Kollegen herab schauten, ist das ein extremer Schritt. Bisher werkeln die Print-Reporter der "Times" und die Mitarbeiter der Web-Ausgabe unabhängig voneinander vor sich hin - wobei nytimes.com nicht viel mehr ist als eine virtuelle Kopie des Papiers, mit gelegentlichen Aktualisierungen.
Fein ziselierte Zielgruppen
Solch statische Websites, so Nisenholtz, seien im Zeitalter des High-Speed-Internets passé - zumal dieses Internet längst nicht mehr nur am Schreibtisch zugänglich ist, sondern auch unterwegs, via Blackberry oder Handy. "Wir können ganz neue Formen des Journalismus schaffen, die in einer Narrowband-Welt nicht möglich waren", sagte Nisenholtz dem "Online Journalism Review". Etwa Reportagen mit Audio-Files, Video-Clips, Kritik-Blogs. "Times"-Kolumnist Nicholas Kristof übt diesen Spagat heute schon: Auf nytimes.com baut er seine Reportagen, Analysen und Kommentare zu Multimedia-Events aus.
"Eine mächtige Mauer ist gefallen", erkennt Jay Smith, der Vorsitzende des Zeitungsverbands NAA. Das Internet locke mit Hunderttausenden von Kunden, "fast alle jung, viele wohlhabend und die meisten gut gebildet" - also ideale Zielgruppen.
Das dämmert allmählich auch anderen. "Es ist eine Web-Welt", seufzt John Temple, der Herausgeber der "Rocky Mountain News" in Denver. Also hat er YourHub.com erfunden: eine Vernetzung aus Online und Print, die Informationen aus 40 Kommunalbezirken bietet - und fein ziselierte Zielgruppen für Inserenten. Eine wöchentliche Print-Ausgabe fasst das Wichtigste zusammen. Darin finden sich nicht nur Artikel der "Rocky Mountain News" : "Wenn im 'National Geographic' etwas über jemanden aus Boulder steht", sagt Temple, "dann verlinken wir das auch."
Erstes Polit-Opfer der Online-Symbiose
Auch beim "Wall Street Journal" sitzen Print- und Online-Redakteure mittlerweile wenigstens auf der selben Etage, im Haupthaus bei Ground Zero in Manhattan. "Es ist viel besser, unter einem Dach zu sein", sagt Online-Chef Bill Grueskin. "Wir prüfen weitere Wege, diese Kooperation und Integration auszuweiten."
Auch Kinsey Wilson, der Chefredakteur von USAToday.com , hält die Verschmelzung von Print und Online für "unvermeidlich", warnt aber vor Eile. "Es macht nur Sinn, solche unterschiedlichen Operationen mit Vorsicht und Umsicht zusammen zu bringen." Derweil spreizt "USA Today" sein Angebot bereits über etliche "Plattformen": Print, Web, Mobiltelefone, PalmPilots und iTV (in Hotels).
Die "Los Angeles Times" wagte sich im Juni mit einem anderen Experiment ins Web. Sie rief die Leser auf, sich an der Meinungsseite zu beteiligen, indem sie einen Leitartikel über den Irak-Krieg als "Wikitorial" auf ihre Homepage stellte - als Text, den die Leser selbst laufend ergänzen oder redigieren konnten, wie die interaktive Internet-Enzyklopädie Wikipedia.
Leider war das eine Bruchlandung. Zwei Tage später musste latimes.com das Stück betreten wieder von der Site nehmen: Ein paar Hallodris hatten pornografisches Material beigesteuert.
Erstes Polit-Opfer der Online-Symbiose
Die "Los Angeles Times" versucht, einen anderen Trend aufzunehmen: RSS - jene immer populäreren Schlagzeilen-Aggregatoren, die inzwischen auch in vielen Browsern eingebaut sind. Sie arbeitet ebenso wie die "Denver Post" an einer eigenen RSS-Software, um das System leserfreundlich zu gestalten: Nutzer können sich damit über die jeweilige Zeitungs-Homepage Hunderte Nachrichten-Links à la carte zusammenstellen.
Aus selbem Grund haben die Zeitungsverlage Knight Ridder, Gannett und Tribune die Mehrheit des Startups Topix.net gekauft, das Lesern direkte News-Links bietet, ohne dass sie sich dabei erst über Portale "einwählen" müssen. Mit ähnlicher Technologie schneiden Google , Yahoo und AOL den Web-Ausgaben der Zeitungen schon länger ins Fleisch: Im Juni hatte Yahoo News 24,9 Millionen Besucher - mehr als sonst eine Online-Newsseite.
Die radikalsten Online-Revolutionäre schaffen indes bei den Lokalzeitungen. Jim West, Bürgermeister von Spokane im Bundesstaat Washington, ist wohl das erste Polit-Opfer der Print-Online-Symbiose. Der "Spokesman-Review" outete den Republikaner, der gegen die Schwulenehe gewettert hatte, nicht nur als selbst homosexuell, sondern beschuldigte ihn auch, Sex mit Minderjährigen gehabt zu haben.
"Mit denen in einem Pool schwimmen"
Die Recherchen des "Spokesman-Review" beruhten auf einer cleveren Kombination aus Print-Journalismus und Online-Technologie. Um dem Leser die Enthüllungen noch transparenter zu machen und auch Verleumdungsvorwürfen zuvorzukommen, ergänzte die Zeitung die Artikel mit Audio-Clips, Transkripten von Interviews, Reporternotizen und anderem Material. Leser konnten dort außerdem Fragen an den verantwortlichen Redakteur stellen.
Andere Kommunalblätter wie das "Wisconsin State Journal" haben Blogger angeheuert. "Hier liegt die Zukunft", sagt John Robinson, der Chefredakteur des "Greensboro News & Record" in North Carolina, der drei Blogs unterhält. Einen davon, der auf Leserkritik eingeht, schreibt Robinson selbst. "Denn mit denen" sagt er über die Web-Generation, "müssen wir jetzt in einem Pool schwimmen."