Albtraum Neuer Markt "Wie konntet Ihr nur?"
Wehmütig las ich die E-Mails, die mich Anfang Februar 2001 von vielen Mitarbeitern der WWL Internet AG erreichten. So sehr ich mich über die große Anteilnahme an meinem Ausscheiden aus der WWL freute, so betroffen machte mich die Untergangsstimmung, die aus diesen E-Mails herauszulesen war. Der Schrecken bei den Mitarbeitern saß tief. Wenn ein Gründer und langjähriges Vorstandsmitglied von Bord geht, so musste das Besorgnis erregende Ursachen haben.
Tatsächlich hatte ich die schwierigste Entscheidung meines Lebens kurz zuvor mit der Unterschrift unter meine Kündigung besiegelt. Achtzehn Monate nach unserem fulminanten Börsengang war für mich kein Platz mehr in "meinem" Unternehmen. Die Aufgaben, für die ich mittlerweile vorgesehen war, konnte und wollte ich nicht länger mittragen.
Es stand schon lange nicht mehr in meiner Macht, Dinge zu ändern, die ich in den letzten Monaten immer heftiger kritisiert hatte. Mein Vertrauen zu zwei Vorstandskollegen war zutiefst erschüttert. Ich war überzeugt, das Unternehmen würde unter ihrer Leitung nicht mehr lange existieren. Meine eindringlichen Appelle an den Aufsichtsrat, Mitglieder des Vorstands auszutauschen, wurden nicht erhört.
Eine Verdrängungstaktik wollte ich nicht riskieren zu leicht wäre diese fälschlicherweise mit Eitelkeiten begründet worden. Ich wusste nicht, wie stark mein Rückhalt im Aufsichtsrat und bei den Aktionären war. Selbst vorsichtige, aber in der Sache deutliche "Ermahnungen" unseres Konsortialführers, die Vorstandsfrage zu lösen, zeigten wenig Wirkung. Nichts hat geholfen, alles nahm seinen gewohnten Gang business as usual eben.
Sicherlich, die existenzbedrohende Lage, in die die Firma geraten war, war zweifellos nicht die Schuld eines Einzelnen. Sie war überwiegend die Folge eines kollektiven Irrtums der letzten achtzehn Monate, dem neben Vorstand und Aufsichtsrat auch Banken, Investoren, Analysten und Anleger aufgesessen waren. Trotzdem musste jetzt endlich das Gebot der Stunde erkannt werden, mit den dringend notwendigen Aufräumarbeiten zu beginnen, um der Firma noch eine Überlebenschance zu geben.
Hatte ich mein Ausscheiden aus der WWL zunächst als Befreiungsschlag empfunden, so kamen mir durch die Mails der Mitarbeiter allmählich erste Zweifel und fast kam ich mir egoistisch vor. Viele Mitarbeiter baten mich um ein Vieraugengespräch und wollten aus erster Hand meine Motive erfahren.
Einer von ihnen war für viele seiner Kollegen eine Schlüsselfigur und genoss ihr Vertrauen. Ich erklärte ihm, warum ich selbst gegangen war, aber gleichzeitig von ihm erwartete, dass er blieb. Ich bat ihn, sich bis zur nächsten Hauptversammlung in drei Monaten in Geduld zu üben.
Bis dahin würde ich genügend Aktionärsstimmen beisammen haben, um die Ablösung des Vorstands zu fordern und durchzusetzen. Auch wenn er selber durchaus dazu bereit war, er war sich sicher, dass es viele andere nicht wären und das Unternehmen vorher verlassen würden. Die hohe Unzufriedenheit vieler Mitarbeiter, die einer Endzeitstimmung nahe kam, würde ein schnelleres Handeln erfordern.
Ich sah keinen anderen Ausweg, als ihn ins Vertrauen zu ziehen. Ich erklärte ihm im Detail meinen Plan, der die längst überfällige Ablösung des Vorstands herbeiführen sollte. Dieser Schritt war nach meinem Dafürhalten die einzige Möglichkeit, das Unternehmen zu retten und den Weg zu einem Turnaround freizumachen. Allerdings gab es einige Unbekannte, die das Vorhaben noch zum Scheitern bringen konnten.
Zum ersten Mal stellte er mir an diesem Abend jene Frage, die ich später noch so oft hören sollte und die mich jedes Mal aufs Neue aufwühlte. Wie konnten nur die Gründer der WWL Leute in so mächtige Positionen wie die von Vorständen einsetzen, die sich dafür weder bei der WWL noch in anderen Unternehmen durch ihre Arbeit oder Position empfohlen haben?
Ich erzählte ihm von dem großen Traum, von der einzigartigen Vision, der wir mit dem Erlös aus dem Börsengang ein gewaltiges Stück näher kommen wollten. Doch Geld allein beschert keinen Erfolg. Wenn sich die Firma von einem Start-up zu einem professionell geführten Unternehmen entwickeln wollte, musste man die Verantwortung mit Profis teilen. Jetzt waren die Barreserven fast aufgezehrt und die Vision immer noch in weiter Ferne. Der Traum schien geplatzt trotz der "Profis".
Unser Traum von einem großen und erfolgreichen, international bekannten Unternehmen hatte sich zeitweise zu einem Albtraum entwickelt. Sehr bald musste der Vorstand den hohen Wachstumserwartungen Tribut zollen. Die WWL war, wie so viele andere Unternehmen auch, in die Wachstumsfalle "Neuer Markt" getappt.
Zu keiner Zeit war der Spagat zwischen einer jährlichen Umsatzverdopplung und gleichzeitigem Erreichen der Gewinnschwelle beherrschbar. Heute klingt diese Einsicht banal, tatsächlich konnte man sie vorher kaum gewinnen. Der Druck und die Erwartungshaltung des Marktes, ständig und um jeden Preis Firmenakquisitionen zu tätigen, haben zu einer Überforderung des Managements und zu einer verfehlten Wachstumspolitik geführt.
Sie merken schon, ich will Sie nicht einfach so zu einem Plauderstündchen einladen und mich nett mit Ihnen über den Neuen Markt oder die WWL unterhalten. Ich will Ihnen offen die Wahrheit sagen! Was spielte sich hinter den Kulissen ab und was lief schief? War nur der Vorstand unfähig, die WWL in den letzten zwei Jahren durch den Boom im Internetmarkt zu manövrieren, oder gab es da noch "Interessen" von ganz anderer Seite?
Der Name des hier beschriebenen Unternehmens, WWL, ließe sich in den meisten Passagen problemlos gegen viele andere Namen am Neuen Markt austauschen; das jedenfalls ist meine Erkenntnis aus Gesprächen, die ich mit ausgeschiedenen Gründern anderer Unternehmen geführt habe.
Weil die Geschichte der WWL aber 1995 mit einem Traum begonnen hatte, möchte ich Sie zunächst in die heile Welt der Gründerzeit entführen, als das Internet noch jede denkbare Perspektive für eine Traumkarriere bot und echte Goldgräberstimmung auf nahezu dem gesamten Globus herrschte.
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