Auslieferung von VW-Neuwagen: Trend zum "dual sourcing" wird sich verstärken
Die VW-Golf-Produktion läuft wieder. Scheinbar haben die Autozulieferer ES Automobilguss und Car Trim dem Autoriesen Volkswagen mit ihrem Lieferboykott Grenzen aufgezeigt. Ein Experte erklärt, warum das ein Pyrrhussieg war - und was mittelständischen Zulieferern richtig zusetzt.
manager-magazin: Die Autozulieferer ES Automobilguss und Car Trim haben im Streit mit Volkswagen die Oberhand behalten - und einige ihrer Forderungen durchgedrückt. Verändert der Streit, der VW dazu zwang, die Produktion einiger Bestseller zu stoppen, nun auch die Beziehungen anderer mittelständischer Lieferanten zu den Autoherstellern?
Zur Person
Marc Staudenmayer, 49, ist Geschäftsführer und Senior Partner der Strategieberatung Advancy. Er hat mehr als 20 Jahre Beratungserfahrung, u.a. im Einkauf und in der Automobilindustrie.
Marc Staudenmayer: Nein, aus meiner Sicht gar nicht. Die Einkaufsabteilungen der Autohersteller haben einen Warnschuss bekommen. Jetzt werden sie die Warengruppen-Strategien überarbeiten. Sie werden wohl die Abhängigkeiten von einem einzigen Hersteller bei wichtigen Bauteilen reduzieren.
mm: Bauteile nur von einer einzigen Quelle zu beziehen, gilt ja schon lange als riskant. Warum begeben sich Autoriesen in solche Abhängigkeiten?
Staudenmayer: In den vergangenen 20 Jahren haben viele Hersteller solche "single source"-Beziehungen aufgebaut. Die helfen ihnen nämlich dabei, die Entwicklungskosten für neue Bauteile auf den Lieferanten abzuwälzen. Wenn es zwei Lieferanten gibt, ist das deutlich schwieriger.
mm: Zulieferer haben das jahrzehntelang ohne Murren mitgemacht?
Staudenmayer: Ja, das ging bisher auch immer gut. Die Einkäufer bei den Herstellern haben darauf vertraut, dass sie aufgrund ihrer Größe am längeren Hebel sitzen. Jetzt hat ein Zulieferer bewiesen, dass das nicht der Fall sein muss. Das heißt aber noch lange nicht, dass sich die Machtverhältnisse nun verschieben. Denn letztlich ist die Position der Autohersteller deutlich stärker: Wer große Mengen einkauft, sitzt am längeren Hebel.
mm: Dass zwei kleine Zulieferer den Autoriesen Volkswagen in die Knie zwingen können, dürfte aber auch den Konkurrenten zu denken geben. Können Zulieferer jetzt vermehrt mit Aufträgen als Zweitlieferant rechnen?
Die deutsche Autozuliefer-Industrie ist eine Milliardenbranche. Der aktuelle Zoff zwischen BMW und Zulieferer Bosch zeigt zugleich, wie fragil die Lieferketten sind. Für die Zulieferer indessen laufen die Geschäfte derzeit prächtig: Die 100 größten Unternehmen der Branche haben ihren Umsatz im Jahr 2015 im Schnitt um 14 Prozent gesteigert. Das zeigt eine Untersuchung von Berylls Strategy Advisors, die manager magazin online vorliegt. Es war der höchste Umsatzzuwachs seit 2010. Mehr Geld floss deshalb in Forschung und Entwicklung - aber auch in strategische Übernahmen, wie unsere folgende Übersicht der 10 größten Zulieferer 2015 (nach Umsatz geordnet) zeigt ...
Platz 10: Michelin
Michelin ist der weltweit zweitgrößte Reifenhersteller, neben Pneus vertreiben die Franzosen auch Straßenkarten, Hotel- und Reiseführer sowie Navigationsgeräte. Im vergangenen Jahr stieg der Umsatz um etwas mehr als 8 Prozent. Die 10 großen Reifenhersteller waren die profitabelste Zulieferergruppe.
Umsatz 2015: 21,2 Mrd. Euro (+8,4 Prozent) Marge 2015: 12,2 Prozent (bezogen auf OI, also auf das Betriebsergebnis)
Platz 9: Johnson Controls
Der US-Zulieferer kommt aus der Haustechnik, im Automobilbereich fokussierte sich das Unternehmen auf Auto-Interieurs und Sitze. Das Interieurgeschäft lagert JC nun aus, das Sitzgeschäft wird abgespalten. Doch das Geschäft mit Starterbatterien und Akkus für Hybrid und Elektroautos bleibt. Die Zahlen von Berryls beziehen sich nur auf den Automotive-Bereich.
Umsatz 2015: 23,9 Mrd. Euro (+6,2 Prozent) Marge 2015: 8,8 Prozent (bezogen auf EBIT)
Platz 8: Bridgestone / Firestone
Das japanische Unternehmen ist der weltgrößte Reifenhersteller, Herstellung und Zulieferung von Pkw-Reifen sind das Hauptgeschäft des Zulieferers. Daneben produziert Bridgestone auch Kunststoffschäume für Autositze und diverse Gummidämpfer.
Umsatz 2015: 24,1 Mrd. Euro (+13,5 Prozent) Marge 2015: 14,9 Prozent (bezogen auf OI)
Platz 7: Aisin
Der japanische Zulieferer gehört zur Toyota-Gruppe. Bekannt sind einige Aisin-Marken für Automatikgetriebe, manuelle Schaltungen und Bremsen. Aisin-Töchter sind aber auch im Bereich Gebäudetechnik tätig, stellt Laser her und produziert sogar Betten. Die Zahlen beziehen sich auf das Gesamtunternehmen.
Umsatz 2015: 24,1 Mrd. Euro (+20,7 Prozent) Marge 2015: 5,5 Prozent (bezogen auf OI)
Platz 6: ZF Friedrichshafen
Im Vorjahr war der deutsche Getriebespezialist noch auf Platz 11, durch die 12,4 Mrd. Dollar teure Übernahme des US-Unternehmens TRW landet ZF nun weiter vorne. Die Friedrichshafener haben mit TRW viel Kompetenz im Bereich Sicherheitssysteme und Sensortechnik für autonomes Fahren hinzubekommen.
Umsatz 2015: 27,4 Mrd. Euro (+69,4 Prozent; TRW-Übernahme noch nicht komplett konsolidiert) Marge 2015: k.A.
Platz 5: Hyundai Mobis
Die Zulieferer-Tochter des fünfgrößten Autoherstellers Hyundai Kia deckt so ziemlich alles ab: Sie produziert Chassis- und Cockpitteile, Sicherheitsprodukte wie Airbags, Lampen oder ABS-Bremssysteme, Steuerkomponenten und Plastikteile. Hauptkunde ist der Mutterkonzern.
Umsatz 2015: 28,1 Mrd. Euro (+6,6 Prozent) Marge 2015: 8,1 Prozent (bezogen auf OI)
Platz 4: Magna
Die Bandbreite des kanadisch-österreichischen Zulieferers ist groß: Magna fertigt Innenräume, aber auch Antriebsstränge, Chassisteile und Elektronikkomponenten. Selbst ganze Autos produziert Magna als Auftragsfertiger und entwickelt auch serienreife Autokonzepte wie das hier abgebildete Elektroauto Mila. Im vergangenen Jahr übernahm Magna den deutschen Getriebehersteller Getrag.
Umsatz 2015: 29,4 Mrd. Euro (+3,9 Prozent) Marge 2015: 8,2 Prozent (bezogen auf OI)
Platz 3: Denso
Denso ist formal seit 1949 eigenständig, größter Anteilseigner ist aber noch immer die einstige Mutter Toyota. Die Japaner machen ein Drittel ihres Umsatzes mit thermischen Systemen wie Klima- und Kühlanlagen. Auch bei Motor- und Elektronikkomponenten sind die Japaner stark. In den Top 100 der Zulieferer finden sich 33 japanische Unternehmen - sie stellen damit die größte Landesgruppe.
Umsatz 2015: 34,3 Mrd. Euro (+17,9 Prozent) Marge 2015: 8,0 Prozent (bezogen auf OI)
Platz 2: Continental
Ja, Conti stellt nach wie vor Reifen her - doch längst produziert der Hannoveraner Konzern auch Antriebsstränge, Bremssysteme, und Antriebskomponenten. Stark ist der Dax-Konzern auch bei Fahrzeugelektronik, etwa bei Technologien für aktive und passive Sicherheit. Die Schuldenlast durch die Übernahme durch Schaeffler ist verdaut, Contis Kriegskasse ist über 5 Milliarden Euro gut für Übernahmen gefüllt.
Umsatz 2015: 39,2 Mrd. Euro (+13,7 Prozent) Marge 2015: 10,5 Prozent (bezogen auf EBIT)
Platz 1: Bosch
Nach fünf Jahren Silbermedaillen ist Bosch auf Platz 1 zurück - die Kraftfahrzeugtechnik ist die umsatzstärkste Sparte. Branchenweit bekannt ist das Unternehmen für seine Sensoren, Motorelektronik und die Entwicklung von elektronischen Fahrsicherheits- und -assistenzsystemen. Zum Vorrücken auf Platz 1 beigetragen hat auch die Übernahme der restlichen 50 Prozent an ZF Lenksysteme.
Umsatz 2015: 41,7 Mrd. Euro (+12,1 Prozent) Marge 2015: k. A.
(Umsatz nur für den Automotive-Bereich)
Wie soll es 2016 für die Branche weitergehen? Die Beryll's-Studienautoren Jan Dannenberg und Tobias Keil haben da eine klare Meinung: Das Jahr wird wie zuletzt deutlich besser ausfallen als die Prognosen. In China normalisiert sich der Markt, das reicht aber noch immer für Umsatzzuwächse zwischen 5 und 10 Prozent. Laut Beryll's kommt es auch zu weiteren Firmenübernahmen. Es scheine kaum ein Unternehmen in den Top 100 zu geben, das nicht an einer Transaktion arbeite, heißt es in der Studie.
Staudenmayer: Bei wirklich kritischen Teilen sehen die Autohersteller bereits heute genau hin, dass es nicht nur einen Produktionsstandort auf Lieferantenseite gibt. Denn Naturkatastrophen passieren nun einmal. Oder denken Sie an die Havarie des japanischen Atomkraftwerks Fukushima nach einem Tsunami. Dafür müssen die Unternehmen gerüstet sein. Ich glaube aber schon, dass sich nun die Tendenz zum "dual sourcing", also dem Bezug von Bauteilen von zwei unabhängigen Lieferanten, verstärken wird.
mm: Was war der Grund dafür, dass bei vielen Bauteilen nur ein einziger Lieferant zum Zug kam?
Staudenmayer: Es ist schlicht kostengünstiger, nur einen Lieferanten zu haben. Deshalb machen das längst auch Premiumhersteller so. Allerdings haben die Hersteller damit die Widerstandskraft der Lieferkette auf dem Altar der Kosten geopfert. Gleichzeitig wollen sie, dass der Lieferant alles macht - bis hin zu den Innovationen. Die Hersteller bauen dann nur mehr die Teile und Baugruppen zusammen. Damit werden das Einkaufsvolumen und die Abhängigkeit von den Lieferanten immer höher. Doch eigentlich müssten die Hersteller höhere Kosten in Kauf nehmen, um die Risiken zu minimieren.
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1. Teil: "ES und Car Trim haben nicht gesiegt - sie haben viel verloren"